Mehr über Kriege und Konflikte nachdenken, damit man sie nicht erleben muss.
General Klaus Naumann, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, bezeichnet das Buch „Future War – Bedrohung und Verteidigung Europas“ als ein „Alarmsignal“, weil es die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte in der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik offenbart. Das Buch will nach Aussage der Autoren „einen Beitrag leisten, dass sich Europa wieder auf strategischen Realismus und Verantwortung besinnt.“
Das ist nicht erst seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine bitter nötig. Wir sind uns als Deutsche und in Europa nicht bewusst, das „China und Russland bereits einen großflächigen Cyberkrieg gegen die Europäer“ führen, so zumindest die Autoren. Zum Glück gibt es neben „Future War“ – wir werden auf das Buch noch einmal ausführlich zu sprechen kommen – auch andere Publikationen, die sich den Fehlern und möglichen Schlussfolgerungen für die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuwenden. Neben „Future War“ seien hier zwei weitere Bücher zur Lektüre empfohlen:
Auch Carlo Masala, der in vielen Medien nicht nur meinungsstark, sondern gut verständlich komplexe sicherheitspolitische Sachverhalte einer seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine aufgewachten deutschen Öffentlichkeit näherbringt, hat in einer aktualisierten Auflage seines Buches „Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens“ die Fehlentwicklungen deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik pointiert dargestellt. In seinem Buch analysiert er im ersten Teil sehr offen, wie wenig der Westen den eigenen Werten gemäß gehandelt hat und wie illusorisch die Annahme war, der Rest der Welt werde sich bereitwillig unsere Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung und politischen Prozessen zu eigen machen.
Der Versuch, die Welt zu verwestlichen – so die zentrale These Masalas –, müsse als gescheitert angesehen werden. Und gerade deshalb müsse der Westen nun bereit sein, für seine Interessen einzutreten und diese im Zweifel durchsetzen. Dafür bedürfe es einsatzbereiter Streitkräfte sowie resilienter Gesellschaften und einer Politik, die bereit sei, Verantwortung zu übernehmen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und Entscheidungen zu treffen. Masala beschreibt die verschiedenen Herausforderungen, vor denen der Westen und somit auch Deutschland stehen: der Zerfall von Staaten auf der einen und ein Erstarken des Nationalismus auf der anderen Seite, der Klimawandel und Epidemien, Migration, Digitalisierung und der Terrorismus. Er mahnt, man müsse endlich aus der „Kassandra-Falle“ ausbrechen.
Wer sich den schlechten Botschaften und unbequemen Wahrheiten verschließe, der werde kaum in der Lage sein, die nun notwendigen Entschlüsse zu treffen. Und diese Entschlüsse, so das Plädoyer von Masala, müssten auf dem Boden der Realpolitik getroffen werden. Schlagworte wie „Wandel durch Handel“ hätten sich genauso als Trugschluss herausgestellt wie der Glaube an eine stetig voranschreitende Verrechtlichung der Politik. Die Machtpolitik sei zurück und Europa müsse sich dem Stellen – und auch die deutsche Bundesregierung. Fazit von mir: Ein gut lesbares Buch mit klaren Botschaften. Kein Geheimnis: Ich mag Masala. Aber auch wer ihn nicht mag, der sollte ihn lesen.
Fast gleichlautend titelt das Buch von Peter R. Neumann „Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört“. Neumann, Professor am King’s College in London, kommt in seiner Analyse zu ähnlichen Ergebnissen wie Masala. Er konstatiert eine gewisse Hybris des Westens. Anders als Masala verteidigt er die Errungenschaften des Westens und ihren globalen Anspruch: Die Gesellschaften des Westens sind freier, gerechter, wohlhabender und friedlicher – auch in der Quersumme dieser Aspekte – als andere Gesellschaften. Für Neumann rächt sich aktuell eine falsche Politik gegenüber China und Russland, aber auch ein nicht eingehegter Exzess der Märkte, der zu einer Delegitimierung des Westens beigetragen habe. Hinzu kommen für ihn Fehleinschätzungen wie die Folgen des arabischen Frühlings oder die bis vor kurzem mehr auf Hoffnung als auf Analyse basierende Annahme, dass Handel auch zu Wandel und Annäherung führe.
Neumann wählt für seine Analyse zunächst eine historische Perspektive, um dann für eine Rückbesinnung des Westens auf seine Stärken zu werben. Er spielt für die Leserinnen und Leser verschiedene Szenarien durch. Danach bleibt das Gefühl, dass die Politik nun zum Handeln aufgefordert sei, ja man selbst am liebsten direkt bei Olaf Scholz anrufen möchte. Doch was sagt man dem Kanzler dann? Als Antwort formuliert Neumann „Leitideen für eine nachhaltige Moderne“, die der Westen prägen und repräsentieren könne. Allerdings bedarf es mehr Ehrlichkeit und ein Bewusstsein der eigenen Defizite, mahnt der Autor. Ein inhaltlich starkes und trotz der Komplexität gut geschriebenes und verständliches Buch.
In dem schon eingangs genannten „ Future War – Bedrohung und Verteidigung Europas“ nehmen die drei Autoren Julian Lindley-French, John R. Allen und Frederick Ben Hodges im Gegensatz zu Masala und Neumann, die zwar auch zwischen europäischem und us-amerikanischem Blickwinkel unterscheiden, eine schonungslose Erwartungshaltung der USA gegenüber Europa ein und konfrontieren die europäische Leserschaft mit den daraus folgenden Konsequenzen. Das Buch beginnt und endet mit einem szenischen Einstieg, der romanhaft die Annahmen der Autoren umsetzt. Aus meiner Sicht sind es die stärksten Passagen des Buches, weil hier die teilweise fast zu komplizierten Sachverhalte leicht verständlich „übersetzt“ werden. Man ist auf einmal mitten im Geschehen. Und es fühlt sich nicht gut an.
Europa werde sich zu den Megatrends Klimawandel, Demographie, Ressourcenknappheit und der globalen Machtverschiebung verhalten müssen, so die drei Autoren, allesamt erfahrene Militärs, die dem Anspruch des gebildeten Offiziers a la Clausewitz durchaus entsprechen. Alle drei folgen in ihrer Analyse der Annahme, dass Sicherheit und Frieden auf dem Konzept der Abschreckung basieren. Europa müsse also eine Verteidigungspolitik betreiben, die mögliche Gegner auf Distanz halte. Die Frage, ob Russland in der Ukraine einmarschiert wäre, wenn vorher das Ausmaß der europäischen und amerikanischen Unterstützung klar gewesen wäre, ist berechtigt. Erkennbar hat die Abschreckung nicht funktioniert, weil es keine gab. Die Europäer wirken, als ob sie permanent um sich selbst kreisen und zudem nicht bereit sind, die aus der Analyse der Bedrohungslage folgenden Ressourcen aufzuwenden.
Für ein künftig starkes und freies Europa seien aus Sicht der Autoren acht Faktoren ausschlaggebend: eine Strategie, die Fähigkeit zur Abschreckung, politischer Zusammenhalt, Lastenteilung, die Nutzung innovativer Technologie, die eigene Strategie offen kommunizieren, als Demokratien dialogfähig bleiben sowie bündnisfähig zu sein. Dazu gehöre auch, das Bündnis, die NATO, handlungsfähig zu machen. Die NATO müsse „den Charakter des Krieges der Zukunft besser verstehen lernen“ und zudem in der Lage, seine Entscheidungen schnell zu treffen sowie weitaus stärker auf Kompatibilität zu setzen.
Ist ein Europa, dass zumindest aus amerikanischer Perspektive „von gegenseitiger Eifersucht geprägt“ und erhebliche Defizite mit Blick auf die kollektive Handlungsfähigkeit hat, überhaupt in der Lage, angemessen zu reagieren? Historisch, so zeigen es die Autoren, waren Europa und die in der EU zusammengefassten Nationen zu solchen Veränderungen nur während eines Krieges in der Lage. „Zum Glück befindet sich Europa heute nicht im Krieg – aber auch nicht im Frieden“, konstatieren die Autoren. Und es stimmt. Genauso, wie die Tatsache, dass man letzteres geflissentlich zu ignorieren scheint in vielen deutschen Debatten.
Bei den Szenarien, die die Autoren durchspielen, wird man mindestens nachdenklich. Was passiert, wenn Russland seine Interessen im Osten Europas mit militärischer Gewalt durchsetzt und parallel eine massive Destabilisierung Nordafrikas ins Werk setzt? Wohl gemerkt erschien das Buch kurz vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine. Was tun wir, wenn Chinas wirtschaftlicher Einfluss so stark ist, dass Europa nicht mehr handlungsfähig ist? Sofort kommt einem der Deal im Hamburger Hafen in den Sinn, von dem damals auch noch nicht die Rede war. Und wer schützt Europa, wenn die USA durch einen Konflikt, mit dem immer mehr raumgreifenden China dazu schlichtweg nicht mehr in der Lage sind?
Die Europäer und auch die Deutschen sowie die NATO haben reagiert in den letzten Jahren. Das ist die gute Nachricht. Es wird viel Geld investiert, Strukturen überprüft, man wendet sich modernen Technologien zu. Doch die schlechte Nachricht ist: Es ist von allem zu wenig. Überall. So zumindest nach Meinung der Autoren.
So spannend der Blick auf uns in Europa und Deutschland durch die drei Autoren ist: Die Frage, die sich mir am Ende stellt, ist die Frage nach unserer Antwort. Ist es ratsam, uns die Kritik zu eigen zu machen oder ist es nicht vielmehr so, dass wir einen eigenen Blick und eigene Interessen haben, die es durchzusetzen, mindestens aber einzubringen gilt. Wie müssen deutsche Streitkräfte, die Bundeswehr künftig aufgestellt sein? Was muss unsere Gesellschaft an Resilienz entwickeln, um in einer Krise, einem Konflikt oder gar einem Krieg zu bestehen? Das Buch fehlt noch.