Mehr Moltke wagen!
Was Politik und Bundeswehr aus Krieg und Einsatz lernen können.
Hand aufs Herz: Wer hat Moltke gelesen? Oder gar Clausewitz? Die Frage richtet sich nicht nur an Soldaten, sondern vor allem auch an Politiker. Die Antwort kann man erahnen. Nicht nur, weil „Vom Kriege“ eine anspruchsvolle Lektüre ist, hält sich die Zahl der Leserinnen und Leser in Grenzen. Und wenn man nach Moltke fragen würde, dann kennt der eine oder andere ein paar Zitate, die bis heute zeitlos sind, aber das war‘s.
Warum gibt es ein Desinteresse an militärischen Denkern? Meine These lautet, dass sich die deutsche Politik in die Idee verliebt hat, dass der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ausgedient habe. Und nun lernen wir gerade schmerzhaft, dass diese Annahme zu schön war, um wahr zu sein. Und man hätte nicht Putin gebraucht, um das zu sehen: Überall in der Welt sind Menschen bereit, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Vielleicht ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der auch ein Krieg gegen den Westen und unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie ist, nun ein Anlass, uns das bewusst zu machen.
Wir haben bei unserer Auseinandersetzung mit neuen Formen der Bedrohung in hybriden Szenarien oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen zu gerne ausgeblendet, dass dies andere und neue Formen des Krieges sind, die aber eine gemeinsame Basis haben: Militärische Gewalt. Zu unserer eigenen Ehrenrettung könnte man auf den Gedanken kommen, dass wir Clausewitz und Moltke gar nicht mehr lesen müssen, weil wir das Bild des Krieges, das beide gedacht haben, verinnerlicht hatten. Und auf manche Herausforderung liest man dort auch keine konkrete Antwort. In der Tat findet man bei Clausewitz keine Ausführungen zum Bürgerkrieg. Und Bürgerkriege sind trotz des russischen Angriffskrieges im Osten Europas die häufigste Kriegsform im 21. Jahrhundert.
Wie ist es mit einer Militärstrategie? Auch das strategische Genie Moltkes, im ausgehenden 19. Jahrhundert die neuen Formen der Mobilität, Stichwort Eisenbahn, militärisch zu denken und zu nutzten, harrt heute einer Übersetzung. Wo ist der neue Moltke, der den digitalen Krieg denkt? Und wo ist die Politik, die daraus die richtigen Schlüsse zieht? Ursula von der Leyen hat mit dem neuen Kommando CIR eine Antwortmöglichkeit aufgezeigt.
Der Krieg im Osten Europas lehrt uns: Die Bundeswehr muss sich neu aufstellen. Gebaut als Armee in der Landesverteidigung, nach 1990 zu einer Armee im Einsatz transformiert, soll sie künftig beides leisten: Krieg im Sinne einer Landes- und Bündnisverteidigung und Einsatz im Rahmen multinationaler Verpflichtungen unter dem Dach der Vereinten Nationen, der NATO oder der EU. Und um es noch einmal zu erwähnen: Der Einsatz und Krieg in Afghanistan haben uns gelehrt, dass die Trennschärfe nicht immer so klar ist.
Was bedeutet das für die deutsche Sicherheitspolitik? Und für die Bundeswehr? Stimmt der Satz, den man inzwischen immer wieder von Ausbildern und militärischen Führern in der Bundeswehr hört: „Wer Landesverteidigung kann, der kann auch Einsatz?“ Darüber ist zu diskutieren.
Für die Politik ist klar: Die erste Baustelle bleibt die Ausstattung der Bundeswehr mit den notwendigen materiellen und personellen Ressourcen. Das Parlament muss der Armee das Geld bereitstellen, dass man braucht, um eine Vollausstattung zu gewährleisten – unabhängig von der Struktur und inklusive der Reserve. Und bei der Nachwuchswerbung braucht es mehr Ehrlichkeit und vor allem eine Betonung des Markenkerns. Wir brauchen junge Menschen, die aus Überzeugung unserem Land dienen – mit allen Konsequenzen – und nicht diejenigen, die nur wegen der Sicherheit eines gut bezahlten Studiums kommen oder auf den krisensicheren Job setzen. Krise, Unsicherheit und Krieg ist der Job! Und auch wenn Berater und Werbeleute anderes behaupten: Diese jungen Leute gibt es.
Die zweite Baustelle der Politik besteht darin, dass die gesamte Bundesregierung Sicherheit und Verteidigung denken muss. Diese Aufgabe kann man nicht allein im Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium verorten. Auch aufgrund der geographischen Lage Deutschlands muss das Verkehrsministerium sicherstellen, dass Straßen und Schienen sowie die digitale Infrastruktur für die Bündnis- und Landesverteidigung geplant und gebaut werden. Das Innenministerium muss den Zivilschutz neu denken und das Gesundheitsministerium ist ebenfalls gefragt. Viel spricht deshalb für einen Nationalen Sicherheitsrat.
Die dritte Baustelle der Politik ist die Resilienz unserer Gesellschaft. Sicherheit und Freiheit sind keine Aufgaben, die man an die Bundeswehr outsourcen kann. Die Bereitschaft zur Verteidigung Deutschlands ist angesichts des Wandels im Kriegsbild mehr denn je eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Und die vierte Baustelle der Politik ist es, der Bundeswehr zuzutrauen, anders für künftige Konflikte zu planen und darüber nachzudenken, vor welchen Herausforderungen die deutschen Streitkräfte künftig stehen. Deutschland braucht eine militärische Führungsstruktur, die diesen Namen auch verdient: einen Generalsstab. Die Einwände dagegen sind ahistorisch. Nie war eine deutsche Armee in den letzten 150 Jahren enger und besser mit und auf die staatliche Ordnung und die Nation verpflichtet als heute. Es gibt gute Gründe, den Offizieren zu vertrauen, die unsere Streitkräfte führen. Die Politik braucht den militärischen Ratschlag nicht erst, wenn es darum geht, Mandate für den Bundestag vorzubereiten, sondern sie sollte sich anhören, was kluge Militärs denken und prognostizieren.
Ich bin überzeugt, dass das, was wir im Osten Europas gerade sehen, auch ein Ergebnis unserer eigenen Schwäche ist. Putin scheint in der Tat überrascht zu sein, dass Europa und etwas zögerlich auch Deutschland, sich auf diese Weise für die Ukraine einsetzt. Die Frage, ob er im Wissen um diesen Einsatz mittels Waffenlieferung und andere Formen der Unterstützung darauf verzichtet hätte, diesen Krieg zu beginnen, ist legitim. Abwägig ist diese Annahme nicht.
Moltke und Clausewitz haben den Krieg gedacht. Sie haben den Krieg nicht herbeigeredet oder gar ersehnt. Sie haben aber anders als die deutsche Politik in den letzten Jahren oder Jahrzehnten realistisch gesehen, dass es bisweilen Mächte gibt, die ihre militärische Stärke oder gar eine angenommene Überlegenheit zur Durchsetzung der eigenen Interessen nutzen. Für Moltke wurde daraus der einfache Leitsatz: „Frei ist nur das Volk, das stark genug ist seine Freiheit zu behaupten.“
Deutschland wurde unter anderem Mitglied der NATO, weil die deutsche Politik in den 1950er Jahren ihren Moltke noch kannte. Als Teil eines Bündnisses konnten die Deutschen inzwischen eine Friedensperiode erleben, die es so in der Geschichte unseres Volkes noch nicht gegeben hat. Dies lag auch daran, dass Deutschland bereit war, einen relevanten Beitrag im Bündnis zu leisten. Moltke formulierte: „Man sollte daher vor allen Dingen eine eigene Armee besitzen.“ In der Konsequenz muss diese dann aber auch einsatzbereit sein.
Fühlen wir unsere Freiheit durch den Krieg in Osteuropa auch bedroht, weil wir ahnen, dass die Bundeswehr nicht ausreichend ausgestattet ist, um sich zu behaupten? Ich sage ehrlich, dass mir die Aussage des Inspekteurs des Heeres, die Bundeswehr sei „blank“ vor allem zu diesem Zeitpunkt nicht gefallen hat. Ich hätte mir den Hinweis gewünscht, dass man unabhängig von der konkreten Materiallage niemandem auf der Welt raten kann, sich mit einem deutschen Jäger-Bataillon anzulegen! Deutsche Soldaten können kämpfen und siegen! Aber die deutsche Kommunikation nach Kriegsbeginn ist eine andere Baustelle. Sie zeigt uns vor allem, wie wenig wir auf ein solches Szenario vorbereitet waren, obwohl es ja durchaus genug warnende Stimmen gab. Und genau darum geht es: Wir müssen solche Ereignisse denken.
Wer einem solchen Politikverständnis das Wort redet, der ist kein Militarist, wie manch ein Politiker und vielleicht auch einige Journalisten unken. Das Gegenteil ist der Fall. Die Strategie der Abschreckung ist keine Erfindung der NATO. Es ist ein bewährtes und altes Prinzip für diejenigen, die in Frieden leben wollen. Und die Erkenntnis dieser Tage, dass vielleicht gerade freiheitliche Gesellschaften wie die deutsche eine starke und wehrhafte Armee brauchen, setzt sich hoffentlich immer mehr durch.
Unsere Gesellschaft, die vor so großen Herausforderungen steht, muss nun entscheiden, wie wir mit den Ressourcen, die unsere Volkswirtschaft generiert, umgehen. Sicherheit hat einen Preis. Die Politik muss nun entscheiden, wer die Rechnung schreibt. Was wir heute in unsere Verteidigung investieren schafft morgen die Freiräume für notwendigen Investitionen in andere Aufgaben. Man kann es mit Moltke sagen, der in der Hoffnung gelebt hat:„Welcher verständige Mensch würde nicht wünschen, dass die enormen Ausgaben, welche in ganz Europa für Militärzwecke gemacht werden, für Friedenszwecke verwendet werden könnten?“
Der Beitrag erscheint als Artikel in der Periodika „Der Panzerspähtrupp“ des Freundeskreises der Heeresaufklärungstruppe Anfang Juli 2022.