Das rebellische Spiel

Fußball im Nahen Osten. Ein tiefer Blick.

Jan Busse/René Wildangel (Hrsg.), Das rebellische Spiel. Die Macht des Fußballs im Nahen Osten und die Katar-WM, Bielefeld 2022

Jan Busse und René Wildangel haben einen Sammelband zur Geschichte des Fußballs im Nahen Osten und zur WM in Katar vorgelegt, der sich wohltuend von den meisten zu lesen und hörenden Stellungnahmen zur Fußballweltmeisterschaft in diesem arabischen Land unterscheidet. Wohltuend, weil differenziert argumentiert wird, weil Fakten benannt werden, die entweder unbekannt sind oder ausgeblendet werden und weil die Autorinnen und Autoren uns Perspektiven einnehmen lassen, die mindestens ein Denkanstoß sind.

Wichtig ist dabei zu sagen, dass die allgemeine Kritik an der Ausbeutung von Arbeitern oder den eingeschränkten Rechten der Frau, aber auch die Umstände der Vergabe der WM an das Emirat deutlich benannt werden. Diese Kritik teile ich persönlich ausdrücklich. Und diese Kritik ist mehr als berechtigt. Egal was Katar tut: In den freien Gesellschaften des Westens werden die negativen Begleitumstände dieser WM auch während des Turniers sicherlich thematisiert werden – nicht nur wegen mancher Äußerung der Offiziellen. Und auch das vorliegende Buch spart nicht mit kritischen Analysen: Robert Kempe spießt noch einmal die Rolle der FIFA und Fragen der Korruption auf. In den Beiträgen von Marlon Saadi, Guido Steinberg, Cinzia Bianco und Sebastian Sons wird uns gezeigt, dass der Fußball vor allem eins nicht ist: unpolitisch.

Im arabischen Raum war und ist der Fußball ein wichtiges Element der Nationswerdung und der Identitätspolitik. Dies beginnt mit der Rolle des Spiels während des Unabhängigkeitskriegs Algeriens, geht weiter über die Aufnahme Palästinas in die FIFA, der mehr Länder angehören als den Vereinten Nationen, und reicht bis Katar, dass sportliche Großereignisse auch nutzt, um Sicherheit für das eigene Land zu generieren. Die internationale Aufmerksamkeit für das Land wird als Schutz vor den die Konfrontation nicht scheuenden Nachbarstaaten gesehen.

Man merkt beim Lesen: Fußball hat etwas mit Politik zu tun, auch wenn man leider von deutschen Sportfunktionären immer wieder den irritierenden Satz hört, der Sport sei unpolitisch. Das ist und war er nie – weder mit Blick auf gesellschaftliche Debatten in Deutschland noch im internationalen Sportverkehr. Sportturniere werden auch künftig nicht nur in den westlichen Demokratien stattfinden. Aber sie sind für uns eine Chance, uns Normen und Werte in anderen Teilen der Welt bewusst zu machen – und für unsere einzutreten. Das geht nur, wenn man „mitspielt“ und nicht mit einem Boykott.

Lesenswert ist auch der Beitrag von Anna Reuss, die das Beziehungsgeflecht von Fußball, Macht und Frauenrechten unter die Lupe nimmt. Sie beschreibt dabei das Phänomen des „sportswashing“, also die Selbstinszenierung durch den Sport unter Beschönigung oder Ausblendung von gesellschaftlichen Problemen oder restriktivem staatlichen Handeln.  

Wir verkennen, dass die erste Fußballweltmeisterschaft in einem arabischen Land auch Ausdruck des Anspruchs ist, gleichberechtigt mit den Nationen des Westens und anderen Teilen der Welt gesehen zu werden. Sie hat eine geopolitische Bedeutung. Und die WM ist für viele Menschen auch mit der Hoffnung auf Veränderung verbunden! Katar will international anerkannt werden. Darum hat es sich für Reformen geöffnet. Zaghaft vielleicht, manche werden auch nur zögerlich umgesetzt. Aber niemand kann ernsthaft behaupten, dass sich nichts tut. Und die Tatsache, dass wir offen Probleme sehen und auch über mögliche Menschenrechtsverletzungen reden, ist genau dafür ein Beleg! Hinzuschauen, wenn das Spektakel der WM vorbei ist und ob es dann weitergeht, das ist Aufgabe der Politik.

Grundsätzlich gilt: Die Gesellschaften im Nahen Osten verändern sich. Die Proteste im Iran zeigen das. Der Arabische Frühling war auch ein Zeichen der Veränderung. Damals waren die Ultras in Ägypten übrigens maßgebliche Träger und Organisatoren des Protests – mehr noch als die Muslimbrüder, denen viele nicht vertrauten. Philip Malzahn gewährt in seinem Beitrag interessante Einblicke in die Geschichte des ägyptischen Fußballs.

Der Band macht zudem deutlich: Veränderungen erfolgen oft nicht linear und brauchen Zeit. Es ist übrigens kein Menschenleben her, da galten in unserem Land Werte und Normen, die uns heute Gott sei Dank völlig fremd sind. Auch wir haben von 1848 über 1919 bis 1949 drei Anläufe gebraucht, um in unserem Land die Demokratie und den Parlamentarismus einzuführen! Der erste Versuch liegt 175 Jahre zurück! Und da erwarten wir, dass Veränderungen nach unseren Vorstellungen binnen Jahresfrist vonstatten gehen? Mir zumindest haben sich beim Lesen solche Gedanken aufgedrängt.

Auch wenn die Gesellschaften im Nahen Osten im Kern konservativ sind: Es findet Wandel statt. Immer mehr Frauen sind erwerbstätig. Immer mehr Frauen wollen teilhaben. Die VAE haben 2021 die erste arabische Frau als Astronautin für das Raumfahrtprogramm des Landes ernannt. Das ist mehr als Symbolpolitik nach außen, sondern wirkt auch nach innen in die Gesellschaft.

Fakt ist: Obwohl uns diese Gesellschaften und ihre Werte und Normen oft fremd erscheinen und sind, ist die Begeisterung für den Fußball dort nicht nur bei jungen Menschen mindestens so groß wie bei uns. Die Beiträge von Ronny Blaschke zum Fußball in den vom Krieg gebeutelten Ländern Syrien, Irak und Jemen sowie von Houchang E. Chehabi über den Fußball im Iran zeigen das augenfällig. Christoph Becker richtet unseren Blick dann vor allem auf die Bedeutung des Fußballs für die Frauen – ob als Spielerinnen oder als Fans. Die Frage der Frauenrechte entzündet sich an den Debatten um das Recht, Fußballspiele in Stadien zu schauen. Und selbst zu spielen.  Aus unserer Sicht ist es natürlich schwer nachzuvollziehen, dass man darum kämpfen muss, aber es zeigt eben auch, dass sich etwas verändert, das alte Werte ins Wanken geraten. Übrigens: 1923 – also vor 100 Jahren – da durften erstmals Frauen an einem Deutschen Turnfest teilnehmen. In München war das. Das war Ihnen seit dem ersten Turnfest 1860 immer verweigert worden. 1903 hatte erstmals eine Frau protestiert. Es dauert noch 20 Jahre, bis die Frauen aktiv dabei waren.

Eines der im Buch beschriebenen positiven Beispiele für eine „Fußball-Diplomatie“ ist die gemeinsame Aktion von Israel, Bahrein und VAE unter der Überschrift „Football Can Unite Us – Let’s Play!“ Gemeinsam haben die drei Nationen eine entsprechende Kampagne in den sozialen Medien gestartet. Ob eine solche Kampagne trägt und die Menschen erreicht, das wird zu diskutieren sein. Aber dass es sie überhaupt gibt, das ist ein gutes Zeichen. Man stelle sich vor, Deutschland und Frankreich hätten sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Sport mit einer so versöhnenden Überschrift die Hände gereicht? Das war zumindest damals unvorstellbar.

Claudia Roth, die sicher nicht im Verdacht steht, unkritisch gegenüber der Politik der Golfstaaten zu sein, schreibt in ihrem Vorwort des Bandes: „Der Fußball ist die Folie, auf der sich viele Konflikte und wichtige Debatten unserer Zeit abspielen. Im besten Fall kann der Fußball einen Beitrag zu Fortschritten erzielen und sogar ein Beispiel für gelebte Solidarität darstellen. (…) Wahr ist auch, dass diese Weltmeisterschaft eine Chance für Reformen sein kann – allerdings nur dann, wenn der Druck auf positive Veränderungen auch nach dem sportlichen Wettkampf aufrechterhalten wird. (…) Der Fußball kann dann ein „rebellisches Spiel“ im besten Sinne sein, das seine gesellschaftliche und kulturelle Kraft entfalten kann, die weit über den Sport hinausreicht.“

Nicht unerwähnt bleiben sollen die kurzweiligen Portraits der Fußballhelden aus dem Nahen Osten, die in der Regel bei europäischen Spitzenclubs Karriere gemacht haben. Den einen oder anderen Namen der Männer, die in ihrer Heimat oft Volkshelden sind, kennen wir auch aus der Bundesliga.

Jan Busse und René Wildangel ist es gelungen, einen kurzweiligen, informativen und sehr lesenswerten Band zusammenzustellen. Wer nicht nur meinungsstark, sondern faktenreich argumentieren will, wenn in der Halbzeit über die WM diskutiert wird, der kommt an diesem Band nicht vorbei.

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