@Krisenjahr1923. Ein Twitterprojekt.

Das Krisenjahr 1923

Krieg, Inflation, Energieknappheit, politische Gewalt, Demonstrationen und Krisen. So kann man das Jahr 2022 knapp zusammenfassen. Und die Hoffnung, dass 2023 alles besser wird, ist vor allem eins: eine Hoffnung. Ernstzunehmende Indizien dafür gibt es kaum. Der Krieg Rußlands gegen die Ukraine wird weitergehen, wahrscheinlich in seiner Intensität zunehmen. Soldaten werden auf beiden Seiten sterben wie auch unschuldige ukrainische Zivilisten. Deutschland wird weiter über Energiekosten sowie eine hohe Inflation streiten. Politische Gewalt gegen Andersdenkende ist inzwischen Alltag. Gesellschaftliche Debatten wie über die sich aus dem Klimawandel ergebenden Konsequenzen werden an Radikalität weiter zunehmen. Man braucht keine Glaskugel, um zu prophezeien, dass das Jahr 2023 ein Jahr der Krisen wird.

Geschichte wiederholt sich nicht.

Das Jahr 1923 war ebenfalls ein Krisenjahr in der deutschen Geschichte. Inflation, wirtschaftliche Krisen, steigende Energiekosten, gesellschaftliche Konflikte: All das war 1923 Alltag für die Deutschen. Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht, aber wir sind die Summe unserer Geschichte. Ein Beispiel? In keinem anderen Land in Europa löst die steigende Inflation im zurückliegenden Jahr solche grundsätzlichen Ängste aus wie in Deutschland. Kein Land in Europa hat eine Hyperinflation und einen so rasanten Währungsverfall erlebt wie die Deutschen 1923.

Wir sind eben die Summe unserer Geschichte. Das meint sowohl unsere eigene Lebensgeschichte als auch die Geschichte unserer Eltern, unserer Familie sowie des Raums, in dem wir leben. Dies gilt auch dann, wenn wir geographisch eine andere Heimat oder Herkunft haben. Diese tragen wir mit uns. Doch der Ort, an dem wir leben, prägt uns über kurz oder lang. Denn zwei Dinge kann man nicht ändern: Geografie und Geschichte.

Geschichte verstehen, neu entdecken und daraus lernen.

Das Wissen um unsere Geschichte ist die Voraussetzung dafür, zu verstehen, warum manche Dinge so sind wie sie sind. Ohne das Wissen um unsere Geschichte werden wir nicht in der Lage sein, die richtigen Entscheidungen für morgen zu treffen.

Wenn wir uns mit dem Krisenjahr 1923 eingehender beschäftigen, dann werden wir feststellen, dass uns die Ereignisse dieses Jahres trotz des dazwischen liegenden Weltkriegs, der nationalsozialistischen Diktatur, der deutschen Teilung und des Kalten Krieges viel mehr prägen, als uns bewusst ist.

Geschichte wird immer wieder neu erfahren. Gerade der Blick auf 1923 zeigt das. Wir beschreiben das Jahr als Krisenjahr und zeichnen Linien bis 1933. Ein Beispiel: Der Hitlerputsch im November, der erste völlig dilettantische Versuch Hitlers, nach der Macht zu greifen, wäre heute bestenfalls eine Fußnote der Geschichte, wenn Hitler nicht zehn Jahre später Reichskanzler geworden wäre. Das verstellt auch den Blick darauf, dass 1923 die Demokratie über alle ihre Feinde von ganz links und ganz rechts obsiegte.

1923 prägt die Deutschen bis heute mehr als uns bewusst ist.

Im Rückblick stellt Sebastian Haffner fest: „Dieses fantastische Jahr ist es wahrscheinlich, was in den heutigen Deutschen jene Züge hinterlassen hat, jene hemmungslos zynische Phantastik, jene nihilistische Freude am „Unmöglichen“ um seiner selbst willen, jene zum Selbstzweck gewordene „Dynamik“. Einer ganzen deutschen Generation ist damals ein seelisches Organ entfernt worden: ein Organ, das dem Menschen Standfestigkeit, Gleichgewicht, freilich auch Schwere gibt, und das sich je nachdem als Gewissen, Vernunft, Erfahrungsweisheit, Grundsatztreue, Moral oder Gottesfurcht äußert. Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig – nicht speziell zu Nazismus, aber zu jedem fantastischen Abenteuer. Die psychologischen und machtpolitischen Wurzeln des Nazismus liegen tiefer zurück, wie wir sahen. Aber damals entstand das, was ihm heute seinen Wahnsinnszug gibt: die kalte Tollheit, die hochfahrend hemmungslose blinde Entschlossenheit zum Unmöglichen; das ‚Recht ist, was uns nutzt‘ und ‚das Wort unmöglich gibt es nicht‘. Offenbar liegen Erlebnisse dieser Art jenseits der Grenze dessen, was Völker ohne seelischen Schaden durchmachen können.“

Welchen psychischen Schaden die Deutschen seit 1923 mit sich herumtragen, das lohnt sicher eine wissenschaftliche soziologische und historische Betrachtung. Festzuhalten ist, dass damals das Vertrauen in Staat und Politik nachhaltig zerstört wurde. Mit Verwunderung mag man dann feststellen, wie viele der damaligen Ereignisse uns heute erstaunlich nahekommen. Mit Blick auf die Verwerfungen und die Not von 1923 mahnte Golo Mann: „Es rächt sich, früh oder spät, wenn man den Leuten zu viel zumutet.“

Muten auch die Krisen unserer Zeit den Menschen zu viel zu? Was die aktuelle Lage den Deutschen 2023 abverlangt ist bei weitem nicht vergleichbar mit dem Elend der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, aber nach einer langen Phase der Stabilität und des Wohlstands verunsichern und verängstigen die Krisen unserer Zeit die Menschen. Das ist mehr als verständlich. Und die Politik tut gut daran, darauf zu reagieren – und zwar nicht nur mit Hilfspaketen und Schlagworten wie „Zeitenwende“.

Das Jahr 1923 auf Twitter miterleben.

Trotz der politischen Krisen versuchten die Menschen 1923 ihr Leben zu leben. Feierten, liebten und lachten – bisweilen auch, um die Sorgen vergessen zu machen. Gerade in Berlin betäubten sich die Menschen, um das Elend um sich herum nicht mehr zu sehen. Nirgendwo prallten Luxus und Not so aufeinander wie in der Hauptstadt der Weimarer Republik.

Und manche unerwartete Schlagzeile hielt das Jahr 1923 bereit: Der Muttertag wird in Deutschland eingeführt und die erste deutsche LGBTQ-Organisation in Berlin gegründet. Erstmals erhält eine Frau einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität. Außerdem schließt die Republik einen Vertrag mit Russland, um sich aus der Energieabhängigkeit von Großbritannien und den USA zu befreien. Der Sozialstaat wird ausgebaut: ein Schwerbehindertengesetz, ein Jugendgerichtsgesetz, das die Strafmündigkeit auf 14 Jahre festlegt, und ein „Reichsmieterschutzgesetz“ werden 1923 verabschiedet.

Auf Twitter kann man auf dem Kanal @krisenjahr1923 das Jahr 1923 mitverfolgen. Jeden Tag ein Tweet. Jeden Tag einen anderen Blick auf die Lebenswirklichkeit des Jahres 1923. Das Projekt will dabei natürlich die großen Entwicklungen wie die Hyperinflation und die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Republikfeinden und dem Staat darstellen, aber eben auch zeigen, was das Jahr sonst an Nachrichten und Ereignissen bereithielt.

Das Leben der Menschen drehte sich eben nicht nur um die großen politischen Schlagzeilen. Individuelle Sorgen und eigene Interessen prägen auch heute unserer Wahrnehmung der eigenen Zeit. Das Projekt will das Gespür dafür schärfen, dass die Welt selten schwarz und weiß, sondern viel eher von unzähligen Grautönen geprägt ist. Dies führt zu der Frage, was wir aus der Geschichte des Jahres 1923 lernen können.

Die Inflation als Beispiel.

Die Inflation ist seit wenigen Monaten so hoch wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Drängt sich da ein Vergleich mit der Hyperinflation vor genau 100 Jahren nicht geradezu auf? Der Historiker Frank Stocker weist daraufhin, dass in den letzten Jahren die Staaten die Bewältigung großer Krisen wie der Corona-Pandemie mittels der Gelddruckmaschine leisten wollten. Damit konnten eine drohende Massenarbeitslosigkeit und Pleiten in der Wirtschaft zwar verhindert werden, aber es stellt sich die Frage, ob die Politik in der Lage ist, zu einer „stabilitätsorientierten Geldpolitik zurückzukehren“, so Stocker.

Der Historiker setzt dabei auf die Unabhängigkeit der Notenbanken und verweist zudem darauf, dass anders als vor 100 Jahren Ökonomen und Notenbanker um die Ursachen der Inflation wussten und nicht kruden Wirtschaftstheorien nachhingen. Gleichwohl: Es ist noch offen, ob höhere Zinsen die Inflation wirklich eindämmen können. Die Entwicklung habe laut Stocker nicht die Dynamik der Inflation von vor 100 Jahren, aber damals wie heute gebe es einige wenige Gewinner und viele Verlierer.  Frank Stocker: „Darin unterscheidet sich die Inflation von 1923 in Deutschland nicht von der von heute.“

1923 hatte weitreichende Folgen.

Thomas Mann erinnerte sich noch während des Zweiten Weltkrieges an das Jahr 1923 und schrieb: „Da geht ein gerader Weg vom Wahnsinn der deutschen Inflation zum Wahnsinn des Dritten Reiches. Das Marktweib, das für ein Ei in trockenem Ton ‚hundert Billionen‘ verlangte, hat damals verlernt sich zu wundern; und nichts war seitdem so toll und grausam, dass es sich noch hätte darüber wundern können: (…) Aus den Millionen betrogener Arbeiter und Sparer wurde damals eigentlich die ‚Masse‘, mit der Dr. Goebbels es dann zu tun hatte. (…) Ausgeräubert wurden die Deutschen zu einer Nation von Räubern.“ So wie Haffner betont Mann, dass man nicht unterschätzen dürfe, wie folgenschwer die Erfahrungen und Verwerfungen des Jahres 1923 für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte waren.

Die Demokratie kann gewinnen.

Andererseits bleibt festzustellen, dass es ein Fehler ist, das Krisenjahr 1923 vor allem von 1933 aus zu betrachten und in diesem Zusammenhang immer wieder die Mängel der ersten parlamentarischen Demokratie zu beklagen – und teilweise geschieht dies auch mit einer gewissen bundesrepublikanischen Hybris. Noch hat die Bundesrepublik den Nachweis nicht erbringen müssen, eine vergleichbare Krise dauerhaft unbeschadet überstehen zu können.

Der Historiker Mark Jones hat das Jahr 1923 nicht zu Unrecht als „Geschichte des Sieges der deutschen Demokratie über ihre Widersacher“ beschrieben. Sein Fazit: „Am Ende des Krisenjahres standen die deutschen Demokraten aufrecht.“

Mir scheint, dass wir uns viel öfters diese Perspektive zu eigen machen sollten. Kraft für die Bewältigung neuer Herausforderungen schöpft man aus dem Gelungenen. Heute können die Deutschen stolz sein, auf das, was diese Bundesrepublik ausmacht. Das können wir, ohne uns über das Handeln der Menschen 1923 zu erheben, ohne die Zwänge, die ihrem Handeln auferlegt waren zu ignorieren und in der Hoffnung, dass wir sicher nicht alles richtig, aber manches besser machen können.

Literaturempfehlungen

Jutta Hoffritz, Totentanz. 1923 und seine Folgen, Hamburg 2022.

Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin 2022.

Frank Stocker, Die Inflation von 1923. Wies zur größten deutschen Geldkatastrophe kam, München 2022.

Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022.

Allgemeine Literatur

Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke 1907-1945. Eine Biographie, München 2007.

Christoph Bausenwein, Stuhlfauths Zeiten. Die goldenen Jahre des Fußballs, Göttingen 2017.

Bernd-M. Beyer, Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte. Das Leben des Walther Bensemann, Göttingen 2003.

Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart 2000.

Mark Jones, 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin 2022.

Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007.

Volker Kluge, Max Schmeling. Eine Biographie in 15 Runden, Berlin 2004.

Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 1994.

Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie, München 2. Aufl. 1995.

Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918-1933, Berlin 2009.

Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007.

Theo Schwarzmüller, Generalfeldmarschall August von Mackensen. Zwischen Kaiser und „Führer“, Paderborn 1996.

Werner Skrentny, Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet. Biographie eines jüdischen Fußballers, Göttingen 2012.

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