Kein russischer Stauffenberg weit und breit

Als Jewgeni Prigoschin, der Chef der Wagner-Gruppe, sich vor einiger Zeit vermeintlich gegen Putin wandte, da wagte sich ein namhafter deutscher Politikwissenschaftler, von den Medien gleich zum Rußland-Experten geadelt, aus der Deckung und verglich ihn – wohlgemerkt kurz bevor die Aktion völlig absurd in sich zusammenfiel – mit dem militärischen Widerstand um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg gegen Hitler.

Der Gedanke war nicht neu. Schon am Anfang des Ukrainekriegs konnte man in den sozialen Netzwerken immer wieder den Ruf nach einem russischen Stauffenberg lesen. Ein russischer Aufstand des Gewissens sollte es uns erlauben, weiter an das Gute in Russland zu glauben. Damit verbunden waren durchaus auch der Wunsch nach einem Ende des Krieges und außerdem der Glaube, dass in den russischen Eliten maßgebliche Menschen sich gegen Putin stellen würden. Aus vielen Gründen ist ein solcher Glaube abwegig: Nicht nur die russischen Eliten, sondern auch das russische Volk steht mehrheitlich hinter dem Krieg gegen die Ukraine.

Ein Attentat auf Putin würde also gar nicht zwingend zu einem Ende des Krieges führen, selbst wenn es gelingen sollte. Und man muss dann auch noch einpreisen, dass ein Attentat scheitern kann. So wie das Attentat am 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler. Damals waren die Folgen nicht nur für die Widerstandskämpfer verheerend. Es kam zu einer weiteren Eskalation der Gewalt, des Mordens wie des Sterbens. Auch heute könnte ein missglücktes Attentat auf Putin den Krieg eskalieren lassen.

Man könnte auch daran erinnern, dass es mit dem Tyrannenmord alleine nicht getan ist. Es braucht einen Plan, die Regierungsgewalt zu übernehmen. Und dann ist offen, mit welchen Zielen ein solcher „regime change“ einhergeht oder wer die Nachfolge antritt. Natürlich ist es spannend darüber zu spekulieren und das, was wir als wünschenswert beschreiben, sagt viel über unser Verständnis und unsere Vorstellungen von Herrschaft und Recht aus. Von Frieden und Krieg. Der Ruf nach einem russischen Stauffenberg bringt zumindest eine Hoffnung zum Ausdruck: Der Tod des Diktators macht Frieden möglich. An seine Stelle tritt jemand mit Vernunft und Friedenswillen.

Das Problem ist nur: Es ist es vollkommen ahistorisch, darauf zu hoffen, es könne in der russischen Armee jemanden geben, der aus vergleichbaren Gründen wie Stauffenberg und die Offiziere des 20. Juli handelt. Das kann und wird nicht passieren. Der Grund hierfür ist recht einfach: Alle Werte und Normen, die am Ende dazu führten, dass die deutschen Offiziere ihren auf Adolf Hitler geleisteten Treueeid brachen, sind russischen Offizieren weitgehend fremd. Sie kennen sie nicht einmal. Sie waren nie Teil des Selbstverständnisses der russischen Streitkräfte. Weder im Zarenreich, erst recht nicht in der Sowjetunion und schon gar nicht heute. Warum ist das so?

Die Dichotomie von Freiheit und Pflicht

Die handelnden deutschen Offiziere waren im preußischen Geiste erzogen und geprägt. Für sie galt ein Kodex, der ohne Protestantismus und die Ideen der Aufklärung nicht zu verstehen ist. In Preußen war durch Kant ein Ethos der Pflicht, der auf Freiheit beruht, entstanden. Dieser prägte das preußische Staatsverständnis und fand vor allem Ausdruck im Selbstverständnis des preußischen Offiziers und wurde von Generation zu Generation weitervermittelt. Trotz der entstehenden tumben Deutschtümmelei, des viel zu lauten Wilhelminismus und letztlich der Pervertierung vieler tradierter Werte durch die Nationalsozialisten blieb dieses Selbstverständnis durchaus lebendig, so auch in den Männern des 20. Juli.  

Die preußischen Tugenden wie Treue, Redlichkeit, Mut, Gehorsam sind soldatischen Tugenden wesensgleich und finden Ergänzung in Tapferkeit, Anstand, Wahrhaftigkeit und Pflichterfüllung. Entgegen übelmeinender Kommentare sind sie nicht selbstreferentiell. Sie gewinnen ihren Wert erst durch die Sache, der sie dienen. Der preußische General Helmuth von Moltke hat das in den Satz gekleidet: „Gehorsam ist Prinzip, aber der Mann steht über dem Prinzip.“

Gerade das war eine Absage an den Kadavergehorsam, den die Nazis später einforderten, in der Wehrmacht implementierten und der von genug Offizieren bereitwillig adaptiert wurde – und später auch als Ausrede diente. „Man habe ja nur Befehle befolgt“, war ein immer wieder zu hörender Satz, der den Werten des Offizierskorps Hohn sprach. Diejenigen, die sich dem verweigerten – durch innere Immigration und mehr noch durch die widerständige Tat, handelten auf der Grundlage ihnen anerzogener und vermittelter Werte und Tugenden, vielleicht durch die elterliche Erziehung und eine lange Familientradition oder durch eine entsprechende militärische Erziehung.

Was macht diese preußische Dichotomie von Freiheit und Pflicht aus? Kant unterscheidet zwei wesentliche Aspekte der Pflicht: Eine Handlung aus Pflicht erfolgt aus Einsicht in die Notwendigkeit und Richtigkeit einer Sache; eine Handlung gemäß der Pflicht erfolgt aufgrund vorgegebener Regeln. Die Pflicht, der die Männer des 20. Juli unterlagen, war die Handlung aus Pflicht, gebunden an ein Ethos, das Anstand, Würde und Wahrhaftigkeit als Grundlage hat.

Henning von Tresckow, Generalmajor und Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, hat seinen Söhnen die besondere preußische Dichotomie von Freiheit und Pflicht beschrieben: „Es birgt eine große Verpflichtung in sich, die Verpflichtung zur Wahrheit, zur innerlichen und äußerlichen Disziplin, zur Pflichterfüllung. Aber man soll niemals von Preußen sprechen, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich damit nicht erschöpft. Es wird oft missverstanden. Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit. (…) Ohne diese Verbindung läuft es Gefahr, zu seelenlosem Kommiss und engherziger Rechthaberei herabzusinken. Nur in der Synthese liegt die deutsche und europäische Aufgabe des Preußentums, liegt der preußische Traum.“

Was gilt davon für die Bundeswehr heute?

Das, was Tresckow hier beschrieb, fand nach Gründung der Bundeswehr Eingang in das Konzept der Inneren Führung. Das Ethos von Freiheit und Pflicht ist deshalb auch heute im Offizierskorps der Bundeswehr noch anzutreffen. Er kann als eine wesentliche Säule der Inneren Führung gelten. Deswegen haben Sie die Väter der Inneren Führung die Traditionswürdigkeit des 20. Juli für die Bundeswehr erkannt als andere in der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Männer um Stauffenberg noch als Verräter schmähten.

Es bleibt zu hoffen, dass die Bundeswehr sich dieser preußischen, nicht deutschen Traditionen bewusst wird und sie stärker lebt. Der neue Traditionserlass erlaubt genau das, indem er anknüpft an soldatischen Traditionen aus der Zeit vor der Wehrmacht. Es wäre nicht nur den jungen Offizieren, sondern auch unserer Gesellschaft zu wünschen, wenn die künftigen militärischen Führer der Bundeswehr in diesem Geiste geprägt und erzogen werden.

Soldaten sind nicht gleich Soldaten: Warum die russische Armee anders „tickt“.

Russische Streitkräfte kommen aus einer anderen Denkschule. Einer der Gründerväter der Bundeswehr und des Konzepts der Inneren Führung, Wolf Graf von Baudissin, hat den Unterschied in seiner Zeit so formuliert: „Kollektivismus ist ebenso asiatisch-russisch wie die Persönlichkeit europäisch-preußisch ist.“ Es ist die Individualität, die unser Denken prägt und auch die Männer des 20. Juli zur Tat bewegte. Es war ihre persönliche Verantwortung und Haltung. Man sieht ja täglich an der russischen Kriegsführung, dass der einzelne Mensch nichts zählt. Das wirkt befremdlich, aber so hat die russische Armee auch in beiden Weltkriegen gekämpft.

Bis heute gilt: Ein Großteil der Menschen in Russland findet den Überfall der Ukraine – es gab nicht mal eine Kriegserklärung – richtig. Und das wohl nicht nur wegen der russischen Propaganda. Es ist eben nicht nur Putins Krieg, wie uns viele linke, russophile Politiker und Journalisten nach einer kurzen Sprachlosigkeit Ende Februar inzwischen wieder glauben machen wollen. Es ist kaum zu fassen: Deutsche Intellektuelle im frühen 21. Jahrhundert verteidigen einen Diktator, der Machtansprüche des 19. Jahrhunderts formuliert und diese mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts durchzusetzen versucht. Das kann man sich gar nicht ausdenken.

Und vielleicht führt das zu einer Erkenntnis, die uns nicht gefällt, aber die wir vergegenwärtigen müssen. Dieses Russland in der ersten Hälfte des 21. Jahrhundert ist uns fremd. Viel fremder als uns lieb sein kann, zugegebenermaßen. Wir brauchen endlich einen realistischen Blick auf diesen großen Nachbarn im Osten. „Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit“ hat Kurt Schumacher einmal gesagt. Offensichtlich fehlt uns trotz der Zeitenwende bisweilen noch der Mut zu einer solchen Betrachtung. Ansonsten könnte man auch nicht auf den abwegigen Gedanken kommen, auf einen russischen Stauffenberg zu hoffen.

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