#krisenjahr1923 im Überblick

1.1.1923

Der Lehrer und Kantor August Heinrich von der Ohe aus dem beschaulichen Bergedorf bei Hamburg notiert in sein Tagebuch: „Heute beginnt das Jahr 1923: Was wird dieses Jahr uns noch alles bringen?“ Eine gute Frage.

August Heinrich von der Ohe wird uns in diesem Jahr immer wieder begegnen. Wer mehr über ihn und sein Tagebuch wissen will, der findet es hier: https://www.kollektives-gedaechtnis.de/id-1918-bis-1933/articles/auszuege-aus-einem-tagebuch-aus-den-jahren-1922-1923.html

2.1.1923

Die Frankfurter Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen eröffnet in der Stadthalle der Mainmetropole eine weitere Volksküche, in der an Bedürftige eine warme Mahlzeit ausgegeben wird. Nicht nur hier ist die Not groß.

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/hunger-und-elend.html

3.1.1923

Der Lübecker Volksbote meldet: „Ein Bahndamm von der Insel Sylt nach dem Festlande wird jetzt zur Ausführung kommen. Auf die Dauer ist der unzulängliche Dampferverkehr eine Unmöglichkeit, da die Schiffe im Wattenmeere oft festfahren und wiederholt mit allen Passagieren tagelang Sturm und Unwetter ausgesetzt waren. Die Fertigstellung des Dammes wird je nach der Witterung zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-002.pdf

https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Hindenburgdamm-Mit-der-Bahn-durchs-Watt-nach-Sylt,hindenburgdamm138.html

4.1.1923

„Der Mensch hat den Wald betreten.“ Und am Ende ist Bambis Mutter tot. Das Buch von Felix Salten „Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ erscheint 1923. In dem Roman, der ein großer Erfolg werden wird, sehen manche eine Parabel auf das Massensterben des Krieges, andere gar eine versteckte Erotikgeschichte oder die Verurteilung der Technikgläubigkeit des Menschen. Der Autor selbst sagt: „Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies.“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/im-schatten-von-bambi-felix-salten-eine-schillernde-100.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/bambi-ist-nicht-suess-und-auch-nicht-niedlich-100.html

5.1.1923

Das Reichsgesetzblatt verkündet eine bereits im Dezember vom Reichstag beschlossene „inflationsbedingte Erhöhung der Grundgehälter, Diäten, Ortszuschläge und Kinderzuschläge von 49%“ im öffentlichen Dienst.

6.1.1923

Im Erfurter Stadttheater wird die Tragikomödie über den Hochstapler Cagliostro von Heinrich Lilienfeld uraufgeführt. Tolstoi hat sich bereits 1921 mit dem historischen Stoff befasst. Ebenso Alexandre Dumas. Die Kritiker sind wohlmeinend. Das Theaterstück wird ein Erfolg.

7.1.1923

Im Ronhof deklassieren die Fußballer der SpVgg Fürth den Hamburger SV mit 10:0. „Es ist traurig, und wir müssen unsere Leser bitten, nicht an einen Druckfehler zu glauben“, schreibt eine Hamburger Zeitung über das Ergebnis des Freundschaftsspiels.

8.1.1923

Die Abend-Ausgabe des Berliner Tageblatts berichtet: „Nach den weiblichen Schöffen haben jetzt auch weibliche Geschworene ihren Einzug in die Gerichte gehalten. Bei den heute an sämtlichen drei Landgerichten in Moabit einsetzenden Schwurgerichtsperioden waren Frauen auf der Geschworenenliste. Die Vorsitzenden würdigten den Einzug der Frauen als Geschworene durch besondere Ansprachen.“

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

9.1.1923

Weil es eine wirkliche Sensation ist, widmet der Der @kicker in der zweiten Ausgabe in Folge dem Länderspiel Deutschland gegen Italien erneut eine Titelgeschichte. Zwar verlieren die Deutschen in Mailand, aber der Bann ist gebrochen. Erstmals seit Kriegsende spielt man nicht nur gegen ehemalige Verbündete wie Österreich oder Ungarn sowie die Schweiz und Finnland. Es folgen Spiele gegen die Niederlande und Norwegen. Die deutsche Fußballelf ist zurück auf dem internationalen Parkett.

https://emagazine.kicker.de/en/profiles/6925623b4e1b/editions/234ba43d314b91f69be4

10.1.1923

Litauische Freischärler besetzen das unter französischer Verwaltung stehende deutsche Memelland nördlich von Ostpreußen.Die Nachricht droht fast unterzugehen, denn am kommenden Tag werden französische und belgische Soldaten ins Ruhrgebiet einmarschieren. Die Republik kann und will die hohen Reparationszahlungen nicht länger aufbringen.

11.1.1923

Der Besetzung des Ruhrgebiets will die Reichsregierung etwas entgegensetzen. Die Arbeiter treten in den Streik, die öffentliche Verwaltung verweigert sich der Besatzungsmacht. All das verursacht Kosten, die die wirtschaftliche schwierige Lage weiter anheizen. Doch die politische Glaubwürdigkeit der Republik steht auf dem Spiel. Der Ruhrkampf soll auch ein Signal an die inneren Feinde sein, nicht nur an die Franzosen. Die Republik wehrt sich.

12.1.1923

Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter tritt in Kraft. Dort heißt es in Paragraf 1: „Jeder Arbeitgeber, der einen Arbeitsplatz besetzen will, ist verpflichtet, einen Schwerbeschädigten, der für diesen Arbeitsplatz geeignet ist, anderen Bewerbern nach Maßgabe der folgenden Vorschriften vorzuziehen.“

13.1.1923

Sebastian Haffner erinnert sich an den beginnenden Ruhrkampf. „Die Regierung rief zum passiven Widerstand auf, und bei der deutschen Bevölkerung überwand das Gefühl nationaler Erniedrigung und Gefahr – wahrscheinlich echter und ernster als 1914 – die angehäuften Bürden der Müdigkeit und Enttäuschung.“

https://www.deutschlandfunk.de/sebastian-haffner-geschichte-eines-deutschen-die-100.html

14.1.1923

Der heutige Tag ist zum „nationalen Trauertag“ erklärt worden. Überall in der Republik demonstrieren die Menschen friedlich auf zahllosen Kundgebungen gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen.

15.1.1923

Der Journalist Erich Dombrowski berichtet von den Übergriffen der französischen Soldaten im Ruhrgebiet. In Bochum stirbt ein Jugendlicher durch eine französische Kugel. Der erste Tote, dem viele weitere folgen werden. Es kommt zu Vergewaltigungen, Szenen der Gewalt und Schikanen der Bevölkerung. Das heizt die Proteststimmung weiter an.

16.1.1923

Die Karlsruher Zeitung berichtet: „Nach allen Anzeichen treibt die Entwicklung im nationalsozialistischen Lager in Südbayern, vor allem in München, einer Krise entgegen. Die durch eine maßlose Agitation aufgepeitschten Anhänger dieser rechtsradikalen Bewegung drohen der Leitung ihrer Führer zu entgleiten, wenn nicht die bis zur Siedehitze gesteigerten Leidenschaften eine Entladung finden. Dazu kommt, dass der Ruf nach Diktatur immer offener und lauter erhoben wird.“

17.1.1923

Die Berliner Stadtverordnetenversammlung beschließt aufgrund der Energieknappheit, dass die Leuchtreklame in der Stadt abgeschaltet werden soll.

18.1.1923

In der festlich geschmückten Aula der Frankfurter Universität findet eine Reichsgründungsfeier statt. Man gedenkt der Gründung des Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles, nicht der Gründung der Republik. Es wird eine Entschließung angenommen, die sich gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets wendet. Professor Richard Lorenz hält die Festrede über „Die Geschichte einer naturwissenschaftlichen Hypothese“.

19.1.1923

Die französischen Soldaten verlassen das Memelland unverrichteter Dinge. Man munkelt, die Reichsregierung sei mit der Besetzung einverstanden. Zumindest die Waffen der litauischen Freischärler sind aus deutscher Produktion. Die Polen haben Ansprüche auf das deutsche Memelland angemeldet. Ein neuer Konfliktherd in Osteuropa.

20.1.1923

Emil Julius Gumbel wird an der berühmten Heidelberger Universität habilitiert. Er war 1914 Kriegsfreiwilliger und engagiert sich inzwischen in der Deutschen Liga für Menschenrechte als überzeugter Pazifist. Als Statistiker weist er nach, dass mehr als 350 rechtsextremen Morden rund 20 von linksextremer Seite gegenüberstehen. Und die Justiz ist auf dem rechten Auge blind.

https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/24243/1/gumbel.pdf

https://www.deutschlandfunk.de/moerderische-statistik-gewalt-von-rechts-100.html

21.1.1923

Erich Mühsam, der anarchistische Schriftsteller, ätzt in sein Tagebuch: „Aber während in allen Meinungskloaken im politischen Hauptpissoir das Volk in seiner Eintracht gepriesen wird, stinkt hinten der Öffnungskübel die widerlichsten Dünste der Parteibesudelung aus. Nationalisten, Demokraten, Sozialdemokraten – alles giftet einander Ekel und Pest an; einer wirft dem anderen »Landesverrat« vor, einer macht den anderen für Jammer und Unglück verantwortlich. Die bayerischen Hakenkreuzdesperados aber wittern Morgenluft. Die gehen wenigstens deutlich und offen heraus mit der Sprache.“ 

22.1.1923

Der alte Moltke dreht sich im Grabe rum. Diesmal allerdings, wie die Presse meldet, wegen Grabräubern. Degen und Helm des „verewigten Generalfeldmarschalls“ wurden zerbrochen, Silberkränze und Kruzifixe bereits vorher gestohlen. Diesmal klauen Diebe sogar die Sargschrauben.

23.1.1923

Die Inflation führt dazu, dass viele Geschäfte sich streuben, ihre Waren offen anzubieten. Immer öfters kommt es zu Wucherpreisen. Die Regierung und die Justiz gehen zunehmend gegen den Wucher vor, die Ursachen der Inflation bekämpfen sie jedoch nicht.

24.1.1923

Kurt Tucholsky plagen Geldsorgen. In einem Brief berichtet er davon, dass er Teile seiner Bibliothek bei einem Antiquar in Kommission gegeben hat. Schließlich nimmt der das Zeitgeschehen mit später Feder porträtierende Dichter und Autor einen ganz profanen Job in einer Bank an, um über die Runden zu kommen. Ein befreundeter Bankier hat ihm die Arbeitsstelle verschafft.

25.1.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet: „Die Angestellten und Arbeiter der Vereinigten Stempelfabriken J. Bergeon und J. Kreuter haben 2 % ihres Monatsgehalts bezw. Wochenlohns für die notleidende Ruhrbevölkerung gespendet.“

26.1.1923

In Duisburg und Trier werden Demonstranten, die gegen die Verhaftung von Beamten protestieren, von belgischen und französischen Soldaten attackiert. Es kommt zu Toten und Verletzten. Das heizt den Hass auf die Besatzungstruppen weiter an.

27.1.1923

Die deutsche Regierung fühlt sich bestätigt: englische Juristen halten die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich für eine Verletzung des Friedensvertrags von Versailles.

28.1.1923

Im verschneiten München findet der erste Parteitag der NSDAP inklusive Fahnenweihe statt. Hitler spricht auf 14 Veranstaltungen, alle Auflagen und Verbote ignorierend. Volle Säle, Begeisterung und Hass auf die Republik, die „Novemberbrecher“ und die Juden. Am Ende marschieren die „Hitlerleute“ durch München. Eine Demonstration der Macht.

29.1.1923

Die Franzosen verhängen den Belagerungszustand. Wer streikt oder die Befehle der Besatzungstruppen nicht befolgt, dem drohen Verhaftung, Geldbußen, Gefängnis oder gar die Ausweisung aus den besetzten Gebieten.

30.1.1923

Heute wird in Berlin die U-Bahn eingeweiht. Zwischen Hallesches Tor und Stettiner Bahnhof können die Berlinerinnen und Berliner nun unterirdisch unterwegs sein. Der Krieg hatte die für 1917 geplante Fertigstellung des 1912 begonnenen Baus verhindert.

31.1.1923

Vier deutsche Polizisten werden in Aachen von einem belgischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil führt zu Protesten und Unruhen in der deutschen Bevölkerung. Per Ministerial-Erlass wird festgelegt, dass die Polizeibeamten französische und belgische Offiziere so wie die Fahnen der Besatzungsmächte nicht grüßen dürfen.

1.2.1923

Der sozialdemokratische Vorwärts meldet: „Im Berliner Auswärtigen Amt wurden gestern Mittwoch die ratifizierten Rapallo-Urkunden ausgetauscht.“ Das Deutsche Reich will mit dem bereits 1922 geschlossenen deutsch-russischen Abkommen unabhängig von britischen und amerikanischen Öllieferungen werden.

2.2.1923

Die Berliner Polizei muss in der vergangenen Nacht insgesamt acht tödliche Gasvergiftungen aufnehmen. Als Grund für die Selbstmorde wird die Angst vor dem Hunger angegeben. Die Not ist groß.

3.2.1923

In Frankfurt wird das Institut für Sozialforschung dank einer großzügigen Spende des Kaufmanns und Mäzens Hermann Weil und seines Sohnes Felix gegründet. Der Gesellschaft „den Spiegel ihrer uneingelösten Möglichkeiten“ vorhalten, das will das Institut.

August Heinrich von Ohe hat derweil andere Sorgen. Er vertraut seinem Tagebuch an: „Ich war mehrfach in Geldnöten, habe mich aber glücklich herausgewunden. Neu gekauft: 1 Wagen 125.000 Mark, ein Rind 215.000 Mark, eine Kuh 400.000 Mark und drei Ferkel 90.000 Mark. Dafür habe ich 425.000 Mark aufgenommen; aus dem Gehalt kamen 440.000 Mark dazu.“

https://www.ifs.uni-frankfurt.de/

4.2.1923

Die Sonntagsausgabe des sozialdemokratischen Vorwärts berichtet: „Keine Pfannkuchen mehr! Die durch die Ruhrbesetzung aufs äußerte erschöpfte Wirtschaftslage des deutschen Volkes lässt eine Einschränkung in der Herstellung und dem Verbrauch aller mit Fett und Eiern versetzten feineren Backwaren geboten erscheinen. Deshalb hat der Vorstand der Konditoreninnung zu Berlin sich der freiwilligen Selbstbeschränkung angeschlossen. Die Konditoreninnung wird gegen die Kollegen, die sich dieser Selbstbeschränkung nicht unterwerfen, mit sehr strengen Strafen vorgehen.“

Hier kann einen Blick in viele der an diesem Tag erschienen Zeitungen werfen: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=4.2.1923

5.2.1923

Die Gewalt im Ruhrgebiet eskaliert zunehmend. Das 14jährige Mädchen Anna Schiffer stirbt an einem Bauchschuss. Sie hatte einfach tanzende französische Soldaten beobachtet, als einer auf sie zielt und abdrückt. Ihre Familie erhält 150 Mark als Entschädigung von den Besatzungsbehörden. Der sozialdemokratische Vorwärts dokumentiert viele dieser Fälle.

6.2.1923

Durch eine Fusion der Deutschen Luft-Reederei und der Lloyd Luftdienst GmbH zur Deutschen Aero Lloyd entsteht eine neue Luftverkehrsgesellschaft. Einen stilisierten Kranich als Symbol führt das Unternehmen fort.

7.2.1923

Als französische Soldaten in Recklinghausen randalieren, kommt es zu Ausschreitungen. Die deutschen Zeitungen berichten in diesen Tagen immer wieder von Vergewaltigungen und Schikanen der Zivilbevölkerung. Es bleibt nicht beim passiven Widerstand. Die Attacken auf französische und belgische Soldaten nehmen ebenfalls zu.

8.2.1923

Unter der Leitung von Dietrich Eckart, Mentor und Freund Adolf Hitlers, wird der „Völkische Beobachter“, die Parteizeitung der NSDAP, künftig als Tageszeitung erscheinen. Die Auflage beträgt 8.000 Exemplare. Die Hetze gegen Juden, Kommunisten und die Republik fällt auf fruchtbaren Boden.

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/V%C3%B6lkischer_Beobachter

9.2.1923

Käthe Kollwitz schreibt diesen Monat in ihr Tagebuch: „Die schwere Depression weicht nach und nach, ich bin dankbar mich künstlerisch wieder lebendig zu fühlen.“

10.2.1923

In München stirbt Wilhelm Conrad Röntgen. Der Nobelpreisträger für Physik hatte mit seiner Forschung und Entdeckung der Radioaktivität die medizinische Diagnostik revolutioniert. Noch bis kurz vor seinem Tod ging er jagen und unternahm lange Wanderungen. Und der Ehrenbürger von Würzburg klagte darüber, dass er den dort erfahrenen intellektuellen Austausch in München schmerzlich vermisse.

https://www.uni-wuerzburg.de/uniarchiv/persoenlichkeiten/bedeutende-gelehrte/wilhelm-conrad-roentgen/

https://www.dhm.de/lemo/biografie/wilhelm-roentgen

11.2.1923

Nach gut einem Monat ist die Ruhrbesetzung Alltag geworden. Sebastian Haffner notiert: „Überall intonierten tagelang Menschenmengen den Rütli-Schwur aus Wilhelm Tell. Allmählich bekam die Geste etwas Lächerliches, Schamhaftes, weil sie in einer Leere zur Schau gestellt wurde.“ An der Ruhr wird weiter bezahlt gestreikt und schon bald beginnt die Inflation zu steigen.

 12.2.1923

In Hannover verschwindet der 17jährige Fritz Franke. Er war zunächst bei einem Mann namens Fritz Haarmann in der Hannover Altstadt untergekommen und dann angeblich nach Hamburg abgereist. Als zwei Prostituierte die Kleidung des Jungen sowie einen Eimer mit Fleischstücken in der Wohnung Haarmanns finden und zur Polizei gehen, bleibt das folgenlos. Die Polizei meint, das Fleisch sei Schweineschwarte.

13.2.1923

Belgische Truppen besetzen Emmerich und Wesel, französische Soldaten marschieren in Gelsenkirchen ein. Im Ruhrgebiet weigern sich die Hotelbesitzer und Kaufleute, Angehörige der Besatzungsmächte zu bedienen oder ihnen etwas zu verkaufen. Anstatt zu bezahlen, kommt es deshalb zu Plünderungen.

14.2.1923

Aschermittwoch. Doch den Narren war sowieso dieses Jahr nicht nach Feiern zumute. In Köln fällt der berühmte Rosenmontagszug aus. Die Roten Funken in Köln wollten eigentlich ihren 100. Geburtstag feiern. Die Jecken schleudern der Zeit ein trotziges „Was interessiert den kölschen Funken schon das lächerliche Welttheater!“ entgegen. Doch auch in Mainz und Düsseldorf gibt es dieses Jahr keine Kamelle. Das Uniformverbot der französischen Besatzer gilt auch für Karnevalsuniformen.

15.2.1923

Die Annexion des Memellandes durch Litauen wird von der Botschafterkonferenz zwar anerkannt, doch 95 Prozent der Bevölkerung sind Deutsche und fühlen sich auch so. Sie wollen über kurz oder lang wieder einen Anschluss an das Deutsche Reich.

16.2.1923

Der Reichstag beschließt ein Jugendgerichtsgesetz. Erstmals wird der Begriff des Jugendlichen definiert. In § 2 heißt es außerdem: „Wer eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, ehe er vierzehn Jahre alt geworden ist, ist nicht strafbar.“

https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/1602-jugendgerichtsgesetz-jugendstrafrecht-jugendkriminalitaet100.html

17.2.1923

Ein Kriegsgericht verurteilt den Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres zu einem Monat Gefängnis, weil er sich geweigert hatte, seiner Ausweisung aus dem Ruhrgebiet Folge zu leisten. Er trägt die Kosten des Verfahrens.

18.2.1923

Auch in Düsseldorf greifen die Franzosen mit harter Hand durch. Regierungspräsident Walther Grützner und drei Telegraphensekretäre werden verhaftet und ausgewiesen.

19.2.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt berichtet von einer örtlichen Parteiversammlung der Deutschnationalen Volkspartei. „Gerade jetzt“, so der Redner, müsse das deutsche Volk „Kraft und Mut nehmen aus den Leistungen, die es in dem gewaltigen, hinter uns liegenden Ringen vollbracht“ hat. „Trotz des Dunkels der Gegenwart, trotz aller Not“ sei den Deutschen „eine große Zukunft beschieden, „eine Zukunft in Freiheit, wenn wir nur wollen.“

20.2.1923

In Koblenz wollen französische Gendarmen sich im Hauptzollamt bedienen und verlangen den Kassenschlüssel. Doch der Zollrat Wanderscheidt wirft 5 Millionen Mark einfach aus dem Fenster und schließt den Kassenschrank. Da nehmen die Franzosen statt Geld ihn mit.

21.2.1923

In Berlin muss die Polizei einschreiten. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Kommunisten haben eine Versammlung der Deutschvölkischen Freiheitspartei gestört. Nachdem die NSDAP in Preußen verboten ist, sammeln sich ihre Anhänger in dieser Partei. 

22.2.1923

In Herne will die französische Besatzungsmacht die Bevölkerung zur Zusammenarbeit aufrufen. Dazu sollen in den Geschäften Plakate aufgehängt werden. Infolgedessen sind alle Geschäfte geschlossen. Die Ladenbesitzer gönnen sich einen Tag Pause.

23.2.1923

Auch in der Krise gibt es Gewinner. Doch da Wucherpreise und Schwarzhandel inzwischen Ausmaße angenommen haben, die für erheblichen Unmut in der Bevölkerung sorgen, beschließt der Reichstag ein „Notgesetz“. So soll auch gewährleistet werden, dass die eingeführten Preisdeckel eingehalten werden.

24.2.1923

Käthe Kollwitz hat schlimme Schmerzen im Oberbauch, Koliken plagen sie. Ihr Mann, der Arzt ist, macht sich große Sorgen. Noch in der Nacht bring er sie ins Krankenhaus. Gallensteine! Adolf Brentano, ein Facharzt auf diesem Gebiet, rät zu einer sofortigen Operation und wird Käthe Kollwitz so das Leben retten. Am folgenden Tag wird sie operiert.

25.2.1923

Im hessischen Friedberg nimmt die Polizei zwei Räuber fest. In dem kleinen Ort Dorn-Assenheim hatten sie die Kirche „vollständig ausgeräubert.“ Wertvolle Gegenstände hatten sie mitgehen lassen. „An Einbrecherwerkzeugen fand man 11 Dietriche und 6 Nachschlüssel. Zu ihrer Verteidigung trugen sie Schlagringe.“

26.2.1923

Otto Pohle inseriert im Gelnhäuser Tageblatt: „Dem Dollar entsprechend sind meine Preise ab heute“ 15.000 Mark für ein Oberhemd mit Kragen und 2.500 Mark für eine Konfirmanden-Hut. Die Inflation lässt die Preise spürbar steigen.

27.2.1923

Die deutschen Schutzpolizisten im Ruhrgebiet haben sich geweigert, die Offiziere der Besatzungstruppen militärisch zu grüßen. Der französische General Jean Marie Degoutte löst die preußische Schutzpolizei in den besetzen Gebieten erst auf und ordnet dann die Ausweisung der Polizisten an.

28.2.1923

Der Badischen Beobachter, ein Presseorgan des Zentrums, wirbt für eine Veranstaltung mit Helene Weber, der ersten weiblichen Ministerialrätin Preußens. Auf der „Großen Frauenkundgebung“ spricht  sie über „Reinheit und Sitte in Familie und Volk“. Daneben wirbt der Verlag: „Versage Dir täglich eine Zigarre und gib ihren Wert zum Deutschen Volksopfer“.

Nachzulesen hier: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

1.3.1923

Freie Fahrt für freie Reichsbürger. Im Deutschen Reich gilt ein neues Tempolimit. Künftig darf man innerorts 30 km/h statt den bisher erlaubten 15 km/h schnell fahren.

2.3.1923

„Gehn wie ein Ägypter!“ Die beliebte Berliner Illustrirte Zeitung, eine Wochenzeitschrift, stellt “Tutanchamun-Tänze” vor, die der anhaltenden Begeisterung über die Entdeckung des Pharaonengrabes in Ägypten im November 1922 Ausdruck verleihen. Der Wunsch nach Ablenkung bei den Menschen ist gerade angesichts der vielen schlimmen Nachrichten groß.

3.3.1923

Das erste Mal erscheint das US-Nachrichtenmagazin TIME. Im Heft geht es um den ersten Hubschrauber, eine mögliche Änderung des Scheidungsrechts und die Reparationszahlungen, die Deutschland zu leisten hat. Auf dem Cover ist der konservative Politiker Joseph Gurney Cannon, der am selben Tag den Vorsitz im Repräsentantenhaus verliert, dem er mit kurzer Unterbrechung seit 1873 angehört hatte. Er kandidiert diesmal nicht wieder.

4.3.1923

In die deutsche Botschaft in Rom wird in der Nacht eingebrochen. Ein deutscher Attaché wird im Kampf mit den Einbrechern verletzt. Die deutsche Seite bemängelt daraufhin den schlechten Schutz der Botschaft durch die italienischen Behörden.

5.3.1923

Verhaftete Beamte der Reichsbahn müssen als Geiseln auf den Lokomotiven der Kohlenzüge mitfahren, da die französische Besatzungsmacht sich vor Anschlägen fürchtet.

6.3.1923                

Der passive Widerstand gegen die Ruhrbesetzung zeigt Wirkung. Statt der 2,1 Millionen Tonnen Kohle werden nur 74.000 Tonnen, keine 4 Prozent der vorgesehenen Menge, nach Frankreich geliefert. Arbeitsverweigerung und Sabotage sind die Ursache.

7.3.1923

Reichspräsident Friedrich Ebert besucht die traditionsreiche Leipziger Messe. Der Reichspräsident fliegt die Strecke von Berlin nach Leipzig mit einem neuen Flugzeug der Firma Junkers.

8.3.1923

Die Stadtverordneten in Berlin diskutieren, ob man Straßen und Plätze nach den Opfern politischer Morde benennen soll. Für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stimmen nur die Kommunisten. Aber selbst die Forderung, Straßen nach Matthias Erzberger und Walther Rathenau zu benennen, werden, wie der „Vorwärts“ berichtet, „von allen Bürgerlichen abgelehnt“. Am Ende einigt man sich darauf, falls einmal eine Straße neu zu benennen sei, diese Rathenau zu widmen. Erzberger geht leer aus. Ein Armutszeugnis für die Demokraten in der Berliner Stadtverordnetenversammlung.

9.3.1923

Für die Nationalsozialisten sind nicht die Franzosen Schuld am Leid und der Not der Bevölkerung im Ruhrgebiet. Schuld sind die Novemberverbrecher und die Juden. Hermann Esser, einer der Getreuen Hitlers, fordert in einer Rede, die Juden als Geiseln einzusetzen und im Zweifel hinzurichten. Die Menge applaudiert frenetisch.

10.3.1923

Alfred Rosenberg, einer der Vordenker der NSDAP, wird „Hauptschriftleiter“, also Chefredakteur des „Völkischen Beobachter“, der Zeitung der Nazis, die nun als Tageszeitung erscheint und die Hetzreden ihres Vorsitzenden Adolf Hitlers verbreitet. Die Auflage steigt.

11.3.1923

Zwei französische Offiziere sind ermordet worden. In Gelsenkirchen wir der Ausnahmezustand verhängt und die Bevölkerung leidet unter Misshandlungen der Besatzungssoldaten. Dann stellt sich heraus, dass französische Soldaten die Offiziere getötet hatten.

12.3.1923

Margarete von Wrangell schreibt an ihre Mutter: „Ich bin der erste ordentliche weibliche Professor in Deutschland. Bin zudem durch einige wissenschaftliche Größen öffentlich anerkannt worden. Das hat mir die Feindschaft vieler eingetragen; aber mein Institut ist eine Schöpfung, die von dauerndem Wert und Nutzen bleiben wird. Jedenfalls weiß ich, wofür ich kämpfe.“ Sie erhält den Lehrstuhl für Pflanzenernährung an der Universität Hohenheim bei Stuttgart und ist in der Tat die erste Professorin an einer deutschen Hochschule.

https://www.tagesspiegel.de/wissen/experimente-von-nationalem-interesse-4966882.html

13.3.1923

Ludendorff ist empört. Angesichts des Gerüchts, er habe sich den Franzosen angedient und sei in einem Waffenschmuggel nach Ungarn involviert, veröffentlicht er eine Erklärung, er habe mit der ganzen Sache nichts zu tun.

14.3.1923

Der Staatsgerichtshof in Leipzig bestätigt das in vielen Ländern erlassene Verbot und die angeordnete Auflösung der NSDAP, die als verfassungsfeindlich gilt. Nur die bayerische Regierung lehnt ein Verbot der Partei Hitlers kategorisch ab.

15.3.1923

Als der Lyriker Stefan George in Heidelberg eintrifft, spricht sich nicht nur seine Ankunft wie ein Lauffeuer herum. Er wohnt nicht mehr am Schlossberg, sondern nimmt am Wolfsbrunnenweg 12 bei Ernst Kantorowicz Quartier. Beide kennen sich seit 1920. Kantorowicz lernt auch andere aus dem George-Kreis wie die drei Brüder Stauffenberg kennen. Als der Meister wieder fährt ist die Entscheidung gefallen: Obwohl er sich bisher kaum mit mittelalterlicher Geschichte befasst hat, wird Kantorowicz eine Biographie über den großen Stauferkaiser Friedrich II. schreiben. Das Buch wird für Furore sorgen und den Autor auf einen Schlag berühmt.

16.3.1923

Die französischen Besatzungsbehörden üben eine scharfe Zensur aus. Seit Besetzung des Ruhrgebiets wurden 445 Zeitungen verboten. Das Erscheinungsverbot erstreckte sich von drei Tagen bis hin zu drei Monaten.

17.3.1923

Der deutsche Industrielle Hugo Stinnes, der im Hintergrund auch in der Politik die Fäden zieht, findet sich heute auf der erst seit kurzem erscheinenden Titel des amerikanischen Nachrichtenmagazins @TIME Magazin wieder. Die Story ist wenig schmeichelhaft und kommt zur Unzeit für Stinnes. Seine Kontakte nach Frankreich werden kritisch durchleuchtet und werfen kein gutes Licht auf den Wirtschaftsführer, der von sich das Bild eines aufrechten Patrioten zeichnet.

18.3.1923

In Hamm kommen Minister der Reichsregierung und der Regierung Preußens mit Vertretern des Ruhrgebiets zusammen. Reichspräsident Friedrich Ebert nimmt ebenfalls teil und dankt für den geleisteten passiven Widerstand, der fortgesetzt werden müsse.

19.3.1923

Heute feiern der dritte und vierte Teil des Historienfilms Fridericus Rex im Ufa-Palast am Berliner Zoo Premiere. An dem Drehbuch von Hans Behrend scheiden sich die Geister. Kommunisten rufen zum Boykott auf während Konservative den Film feiern. Nur Otto Gebühr als preußischer König findet die Rolle seines Lebens.

20.3.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt appelliert: „Französischer Sadismus wird nicht siegen, wenn Ihr Euch Eurer Pflicht bewusst bleibt. Eure Pflicht ist: Weitere Beiträge zum Deutschen Volksopfer.“ Für die Ruhrhilfe haben die Beamten und Angestellten der Kreisverwaltung 104.000 Mark gespendet.

21.3.1923             

Die jüdische Gemeinde Münchens wird bei Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling wegen der Lage der Juden in Bayern vorstellig. Die Abordnung beklagt einen „Mangel an Rechtsschutz“ vor den „lebens- und eigentumsbedrohenden Terrorakten“.

22.3.1923

Der Innenminister Preußens, Carl Severing (SPD), fürchtet einen Putschversuch der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) und erlässt ein Verbot.

23.3.1923

Schulabschlussfeier am ehrwürdigen Wittelsbacher Gymnasium in München. Schulleiter Gebhard Himmler klagt den Schieber- und Wuchergeist der Zeit an, der sich heute schon in die Schule eingeschlichen habe. Sein Sohn Heinrich sucht gerade nach Wegen, sich politisch zu engagieren.

24.3.1923

Die Menschen diskutieren noch immer über den Monumentalfilm Fridericus Rex. Die Lichtbild-Bühne kommentiert in ihrer heutigen Ausgabe: „Selten ist wohl ein Filmwerk so missdeutet – und auch missbraucht worden, wie dieser Film, den man sowohl als nationalistischen, wie auch als antimilitaristischen Tendenzfilm aufzuputschen beliebt hat. In Wirklichkeit will dieser Film nichts anderes sein, als ein großes historisches Filmwerk, und wenn es die Aufgabe eines historischen Films ist, eine Zeitepoche widerzuspiegeln, so kann man wohl sagen, dass dieser einer der besten historischen Filme ist, die je geschaffen wurde. Otto Gebühr hatte die von ihm geschaffene Fridericus-Gestalt noch vertieft und bot nicht nur in der Maske eine treffliche Charakterstudie des großen Königs.“

25.3.1923

Um ihn nicht „verbauern und verschlesiern“ zu lassen, haben seine Eltern den jungen Helmuth James von Moltke in das Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee geschickt. Die moderne Pädagogik soll den Jungen zu einem gebildeten, weltgewandten Menschen formen. Doch weit gefehlt. Der junge Helmuth findet dort nicht den Geist, den er aus der eigenen Familie kennt. Er eckt an, prügelt sich, dabei platzt ein Trommelfell. Als das Schuljahr Ostern endet, ist er froh, wieder auf Gut Kreisau zu sein.

Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke 1907-1945. Eine Biographie, München 2007.

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article753577/Helmuth-von-Moltke-der-charmante-Kaempfer.html

https://www.chbeck.de/brakelmann-helmuth-james-moltke/product/21325

26.3.1923

Die Oldenburger Zeitung für Volk und Heimat berichtet: „Der Jungdeutsche Orden, der auf dem Boden der Verfassung steht und eine Gemeinschaft aller gut deutsch gesinnten Männer herstellen will, hatte hier eine Gefolgschaft, diese ist in einen höheren Grad, eine Brüderschaft verwandelt worden und berechtigt, neue Gefolgschaften zu bilden.“ Der Jungdeutsche Orden ist antisemitisch und elitär, tritt aber für die Versöhnung mit Frankreich ein und ist der größte nationalliberale Verband der Weimarer Republik. Das Ziel ist die Schaffung eines „wahren demokratischen Staatsaufbaus“. Die Zeitung meldet:  „In Zwischenahn wird am kommenden Sonnabend eine Gefolgschaft gebildet, ein Zeichen, daß der Jungdeutsche Ordensgedanke im Lande lebendig ist.“

Hier zum Nachlesen die Tagespresse des 26.3.1923: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=26.3.1923

27.3.1923

Ein leidiges Thema: Der Reichstag beschließt ein Gesetz zur Erhaltung leistungsfähiger Krankenkassen. Die Gesundheitspolitik sorgt für Streit. Ärzte streiken und die Krankenkassen unterhalten eigene Krankenhäuser und stellen Mediziner ein.

28.3.1923

Bei einem Grubenbrand auf der Zeche Minister Achenbach, einem Steinkohlebergwerk in Lünen im Ruhrgebiet kommt es zu einem Grubenbrand. Fünf Bergleute sterben.

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/283262/der-ruhrbergbau/

29.3.1923

Die Volksstimme berichtet von einer Feier der Arbeiterjugend am in Diesdorf: „Das umfangreiche Programm verspricht frohe Stunden. Lieder, Rezitationen, eine Szene aus Goethes Faust, Musikstücke sowie ein Vortrag über Erneuerung im Sozialismus werden den Abend ausfüllen.“

30.3.1923

Die Morgenausgabe der Berliner Börsen-Zeitung meldet: „Massenausweisungen ohne Beispiel“. Die französische Besatzungsbehörde hat mit sofortiger Wirkung „250 Zollbeamte, ferner die Bürgermeister von Montabaur, von Sieglar, die Landräte von Wittlich und Heinsberg“ und den Chefredakteur der Westdeutschen Tageszeitung ausgewiesen. Insgesamt sind aus den „altbesetzten Gebieten bis dato fast 2500 Menschen ins Reichsgebiet abgeschoben worden.

31.3.1923

Krupp-Mitarbeiter demonstrieren in Essen friedlich gegen die französische Besatzung. Dann eröffnen französische Soldaten das Feuer. An diesem Karsamstag sterben 13 Menschen, 32 werden verletzt. Die Franzosen statuieren ein Exempel. Der französische Leutnant wird zum Nationalhelden stilisiert. Die Firmenleitung wird verhaftet und zu Gefängnishaft und hohen Geldstrafen verurteilt. Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote titelt: „Eine unerhörte Bluttat in Essen.“


1.4.1923

Anita Berber, die skandalträchtige, Kokain abhängige und geniale Tänzerin tanzt diesen Monat in der deutschen Hauptstadt. Wenn sie mehr Haut zeigt als das nach den Moralvorstellungen dieser Tage Not tut, dann liegen ihr nicht nur die Männer, sondern auch Frauen zu füßen. Klaus Mann schreibt über sie: „Verderbte Bürgermädchen kopieren die Berber, jede bessere Kokette wollte möglichst genau wie sie aussehen.“

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/taenzerin-anita-berber-das-nackte-leben-a-430326.html

2.4.1923

Französische Truppen besetzen die ersten drei von insgesamt elf Zechen im Ruhrgebiet, um die dort auf Halde lagernde Kohle abzutransportieren. Doch das klappt nicht so recht, weil die Eisenbahnarbeiter nicht mittun wollen.

3.4.1923

Da Gelnhäuser Tageblatt druckt die Ankündigung der Deutschnationalen Volkspartei für die am kommenden Samstag geplante Bismarckfeier im Saal der Gaststätte „Hoffnung“ an. „Deklamationen, musikalische Vorführungen, Volkstänze nehmen den Abend ein. Alle Nationalgesinnten sind zu der Bismarckfeier herzlich eingeladen.“

4.4.1923

In Potsdam besteht die erste Frau in Preußen die Gesellenprüfung als Kunstmöbeltischler.

5.4.1923

Der Lübecker Volksbote warnt: „Im geheimen wühlen sogenannte nationale Verbände und Deutsch-Völkische die Republik abzuwürgen und den Monarchistenstaat wieder aufzurichten. Das bedeutet Kastenherrschaft und Unterdrückung in schlimmster Form.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-079.pdf

6.4.1923

Geiz ist geil! Der Händler Philipp Wallich aus Wächtersbach inseriert im Gelnhäuser Tageblatt: „Durch meinen enorm billigen Verkauf ist der Andrang nachmittags derart groß, dass ich das verehrte Publikum bitten muss, möglichst auch die Vormittagsstunden zum Einkauf benutzen zu wollen.“

7.4.1923

Das erste große Passagierschiff der Nachkriegszeit, die „Bremen“ mit 10826 BRT wird in Dienst gestellt. Das Schiff ist der Stolz der Norddeutschen Lloyd, eines traditionsreichen Schifffahrtsunternehmens.

8.4.1923

Verkehrsminister Wilhelm Groener und Reichspräsident Friedrich Ebert appellieren an die Reichsbahnmitarbeiter in den besetzten Gebieten, ihren „Heldenkampf“ weiterzuführen.

9.4.1923

Das Durchlacher Tageblatt berichtet aus Mannheim: „Die Franzosen spielen sich in den Räumen der Firma Benz als unumschränkte Herren auf. Sie durchsuchen die Beamten bei jedem Verlassen der Betriebsräume. Die Lohnzahlung ist erschwert. Die Firma Benz hat infolge dieser Belästigung beschlossen, auch ihre Beamten aus den Büros zurückzuziehen.“

10.4.1923

In Essen nehmen tausende Menschen Abschied von den toten Krupp-Arbeitern. An der „Trauerfeier für die in Essen als Opfer der französischen Einbruchsarmee Gefallenen“ im Reichstag zu nimmt auch Reichspräsident Friedrich Ebert teil. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Die Republik sucht nach Einigkeit. Reichskanzler Wilhelm Cuno sagt: „Mir ist, als sähe ich hinter den Särgen die schmerzensreiche Schar der Vielen den Weg des Leids in Essen gehen, der Toten, wie der im Kerker Schmachtenden, in der Verbannung Lebenden.“

11.4.1923

Der Großindustrielle Hugo Stinnes ist empört. Der reichste Deutsche war mit seiner Frau ins Ruhrgebiet unterwegs, als ihn französische Soldaten aus dem bequemen Schlafwagen der Eisenbahn herausholen und in einen Gepäckwagen sperren.

12.4.1923

Bei der Tagung des IOC in Rom fällt die endgültige Entscheidung. Deutschland wird nicht an den Olympischen Spielen im kommenden Jahr in Paris teilnehmen. Frankreich lehnt es ab, eine entsprechende Einladung an das Deutsche Reich auszusprechen.

13.4.1923

Hans Adam Dorten gibt der London Times ein Interview, indem er die Integrität des Reiches in Frage stellt. Nicht nur im Auswärtigen Amt ist man außer sich. Dorten hat schon 1919 die Rheinische Republik ausgerufen. Der Separatismus ist eine weitere Herausforderung für die Regierung. Und die Franzosen sehen das mit Wohlgefallen.

14.4.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet, dass in der örtlichen Turnhalle ein „in Sandstein gehauener Denkstein“, der die Namen „der für das Vaterland gefallenen Mitglieder des Turnvereins trägt“, eingelassen wurde. Die feierliche Einweihung soll am kommenden Wochenende erfolgen.

15.4.1923

Die Franzosen können nicht einmal 10 Prozent der vorgesehenen Menge an Kohle und Koks aus dem besetzten Ruhrgebiet exportieren. Insgesamt sind inzwischen mehr als 20.000 Personen aus den besetzten Gebieten ins Reichsgebiet ausgewiesen worden.

16.4.1923

August Heinrich von der Ohe kann sich nur noch wundern. Er schreibt in sein Tagebuch: „Zwei Zentner Heu und 2 1/2 Zentner Stroh für zusammen 67.500 Mark gekauft. Früher würde man das Ganze für 10 Mark gekauft haben.“

17.4.1923

Am Kieler Theater kommt es zu einem Skandal. Carl Zuckmayer ist Dramaturg an der Bühne und führt das Lustspiel „Eunuchen“ des römischen Dramatikers Terenz vor einem ausgewählten Publikum auf. Allerdings übersetzt er den Stoff „unverblümt“, wie er selbst schreibt. Die vulgäre Sprache und die Bezüge zum Jetzt sind unverkennbar. Zwei Figuren, der Feldherr Thraso und Gnatho, tragen Masken mit dem angedeuteten Antlitz von Hindenburg und Ludendorff. Zum Schluss betritt eine nackte Schauspielerin die Bühne, die Brüste orange geschminkt. Die Theaterkommission wird am folgenden Tag entscheiden, dass das Stück nicht öffentlich aufgeführt werden darf.

18.4.1923

Käthe Kollwitz erholt sich dieser Tage noch von der schweren Operation. Sie ist mit ihrem Mann in Neuruppin und notiert in ihrem Tagebuch: „Die Sonne scheint, die Amseln singen, nichts vom Berliner Lärm – Ruhe – Ruhe – Ruhe zum wirklichen Ausruhen.“

19.4.1923

Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein berichtet im Kabinett: „Gestern trat ein unerhörter Ansturm ein, weit über den normalen Bedarf.“ Wenn die Reichsbank wie bisher auf die Inflation reagiert, so warnt er, dann seien der Goldschatz und die Reichsbank in 10 Tagen „vernichtet“.

20.4.1923

Im Münchner Zirkus Krone inszeniert eine Partei, die NSDAP, den 34. Geburtstag ihres Vorsitzenden und Führers Adolf Hitler. „Führer“, so nennen sie ihn. 9000 Menschen jubeln ihm zu und Dietrich Eckart dichtet für ihn im Völkischen Beobachter: „Die Herzen auf! Wer sehen will, der sieht! Die Kraft ist da, vor der die Nacht entflieht!“

21.4.1923

Der bayerische Innenminister kündigt an, dass auch in Bayern wie im Reich eine Milderung des Tanzverbots beschlossen werde, wenngleich es bedauerlich sei, „dass in einer Zeit wie der jetzigen überhaupt getanzt wird.“

22.4.1923

In München beginnt eine neue Reihe von Abendvorlesungen an der Universität. Die Titel der Vorträge lauten u.a. „Die Frau als Gattin und Mutter“, „Die Romantiker und Brahms“, „Was soll die Frau von der Ernährung der Familie wissen“ und „Die Erde und das Leben auf ihr“.

23.4.1923

Heute feiert der nationalistische Publizist Arthur Moeller van den Bruck, prominenter Vertreter der „Konservativen Revolution“ Geburtstag. Der Titel seines in diesem Jahr erschienenen Buches „Das dritte Reich“ wird künftig von den Nazis aufgegriffen.

https://www.dhm.de/lemo/biografie/arthur-moeller-van-den-bruck.html

24.4.1923

Neue Regeln im Fußball werden eingeführt. Nachdem die Verlängerung nicht reglementiert war, beträgt die „Maximaldauer eines Entscheidungsspiels“ nunmehr „90 + 30 + 30 = 150 Minuten“. Sepp Herberger spielt diese Saison beim VfR Mannheim und nimmt die neuen Regeln zur Kenntnis.

25.4.1923

Ohne parlamentarische Debatte beschließt der Reichstag einen Nachtragshaushalt in Höhe von 4,5 Billionen Reichsmark, um die durch den passiven Widerstand und die Inflation gestiegenen Ausgaben zu decken.

26.4.1923

In München kommt es zu Ausschreitungen zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Nazis. Hitler malt das Schreckgespenst eines Linksputsches an die Wand und fordert ein Verbot der Feiern zum 1. Mai.

27.4.1923

Das vom Reichstag beschlossene Gesetz über den Verkehr mit Absinth tritt in Kraft. Im Gesetz heißt es: „Es ist verboten, den unter dem Namen Absinth bekannten Trinkbranntwein, ihm ähnliche Erzeugnisse oder die zur Herstellung solcher Getränke dienenden Grundstoffe einzuführen, herzustellen, zum Verkaufe vorrätig zu halten, anzukündigen, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen.“

https://www.welt.de/geschichte/article136207791/Dieser-Trank-macht-Frauen-willig-Maenner-schwach.html

28.4.1923

Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote schreibt: „Hakenkreuz und Sowjetstern sin die Symbole für ein und dieselbe Geisteseinstellung: die rücksichtslose Anbetung der Gewalt und der Macht im politischen Leben. Kein Wunder also, wenn diese beiden Pole, die aus den entgegengesetzten Extremen kommen, immer mehr zueinander hinstreben.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-099.pdf

29.4.1923

Der Volksstaat Hessen erklärt die NSDAP für verfassungsfeindlich und verbietet sie. Die Regierung fordert die Auflösung der Partei. In Preußen war die Hitlerpartei bereits am 23. März verboten worden.

30.4.1923

Unter der Überschrift „Die Frau und der Maigedanke“ kann man heute in der Danziger Volksstimme lesen: „Mit ernsten Augen und Gedanken ging die junge Arbeiterin in das Leben hinein, voller Illusionen und voller Zukunftsträume. Sie hat sich nicht zerbrechen lassen. Mutig steht sie in den Reihen der geistigen Kämpfer, die die Macht es Schwertes aus der Welt schaffen und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verhindern wollen. Sie weiß, dass es noch ein harter mühseliger Weg bis zum Ziele ist.“ Die Zeilen sind von Marie Juchacz.

http://library.fes.de/danzig/pdf/1923/1923-100.pdf 

1.5.1923

Im ganzen Reich feiern Menschen den 1. Mai, den Tag der Arbeit. In München hat Hitler seine Anhänger teilweise bewaffnet, um die Kundgebung der Arbeiterbewegung auf der Theresienwiese zu sprengen. Er will die Eskalation, die Gewalt. Doch die SA wird von Reichswehr und Polizei entwaffnet. Hitler ist blamiert und tobt: „Ich werde nicht kapitulieren! Wir geben nicht nach. Alles werden wir tun, aber wir werden nie kapitulieren!“ Doch diesmal gibt er auf.

2.5.1923 

Ferdinand Porsche hat zum Monatsbeginn als Nachfolger von Paul Daimler die Leitung des Konstruktionsbüros der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) übernommen. Seine Innovationen werden dem Unternehmen im Rennsport große Erfolge bescheren.

https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231359833/Ferdinand-Porsche-Der-Erfinder-des-VW-und-des-Hybridantriebs.html

3.5.1923

Erstmals gibt es eine direkte Flugverbindung zwischen der britischen Hauptstadt London und Berlin. Vorher musste eine Zwischenlandung in Amsterdam eingelegt werden. Die Verbindung hat auch eine politische Symbolik, denn das Verhältnis zum ehemaligen Kriegsgegner Großbritannien ist ungleich besser als zu Frankreich.

4.5.1923

Egal ob beim Arbeitersportverein Einigkeit 05 oder dem bürgerlichen Athletik-Club Germania: In Aschaffenburg ist Ringen ein beliebter Sport. Ob der aus dem unterfränkischen Städtchen stammende Ernst-Ludwig Kirchner beim Malen seines berühmten Bildes im fernen Davos an seine Heimat denkt?

5.5.1923

Der Lehrer August Heinrich von der Ohe notiert verzweifelt in sein Tagebuch: „Vor Ostern sind alle zum Zahnarzt gewesen. Es kostete 75.000 Mark. Ein Forkenstiel kostet 5.500 Mark. Der Dollar steht wieder auf 42.000 Mark.“

6.5.1923

Der ehemalige kaiserliche Feldmarschall August on Mackensen ist einer derjenigen, die keine Gelegenheit auslassen, die Schwäche der Republik zu betonen und nach dem starken Mann zu rufen. Auch heute beschwört er in einer seiner vielen Reden, die er vor unzufriedenen Bürgern hält, die Rettung des Vaterlandes: „Wer weiß, ob nicht heute schon der Mann, die Persönlichkeit unter uns wandelt, die Deutschland frei machen und aufrichten wird. Wo ist der Staatsmann, der uns vor dem staatlichen Untergang retten wird?“

7.5.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet: „Gestern fand eine Versammlung der demokratischen Partei statt.“ Der Redner Walter Schücking fordert: „Das Hauptziel, das unsere Politik ins Auge fassen muss, ist die Einwirkung auf die Alliierten, dass sie endlich daraufdringen, dass der Völkerbund verwirklicht und Deutschland Mitglied desselben wird.“

8.5.1923

Ein französisches Kriegsgericht verurteilt den Industriellen Gustav Krupp zu Bohlen und Halbach zu 15 Jahren Gefängnis und 100 Millionen Geldstrafe. Seine Arbeiter erklären sich mit ihrem Chef solidarisch.

9.5.1923

Anhänger Hitlers stören mit Stinkbomben und lauten Zwischenrufen im Münchner Residenztheater die Uraufführung des Theaterstücks „Im Dickicht“. Das Stück des damals 25 Jahre alten Autors Berthold Brecht kommt noch ohne den Zusatz „der Städte“ aus.

10.5.1923

Die bayerische Regierung befürchtet eine Zunahme der Gewalt. Darum erlässt man eine Verordnung, die scharfe Kontrollen bei Aufmärschen und Versammlungen unter freiem Himmel erlauben und droht mit scharfen Strafen.

11.5.1923

Friedrich Radszuweit wird Präsident des Vereins „Bund für Menschenrecht“, der ersten deutschen LGBTQ-Organisation. Magnus Hirschfeld hat in Berlin das „Institut für Sexualwissenschaft“ gegründet und in der Hauptstadt gibt es mindestens 40 Lokale, die als Treffpunkte für Männer gelten. Auch einen „Gay-Guide“ gibt es und viele Gastwirte schließen sich zusammen, um die Bewegung zu unterstützen.

12.5.1923

Die Deutschnationalen (DNVP) beantragen im Reichstag die Abschaffung des Republikschutzgesetzes. Der Antrag findet erwartungsgemäß keine Mehrheit. Vorher hatte man die Deutschvölkische Freiheitspartei, in der sich viele Nationalsozialisten, deren Partei schon verboten ist, ebenfalls verboten.

13.5.1923

Heute ist erstmals Muttertag in Deutschland. „Deutsches Kind. Denk heute Deiner Mutter Güte, bring ihr eine frische Maienblüte.“ Der Muttertag wird heute eingeführt. In den USA gibt es ihn bereits seit 1914. Jetzt sollen auch die deutschen Mütter einen eigenen Tag bekommen – und die Blumengeschäfte überall in der Republik freuen sich über diese gute Idee des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber.

14.5.1923

München bereitet sich auf das Turnfest im Juli vor. Der Stadtrat bietet die Bevölkerung um Unterstützung: „Damit alle Turner ein Unterkommen finden, sollte tunlichst jeder Haushalt 1 oder 2 Turner beherbergen.“

https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb00133484_00217_u001/1

15.5.1923

Französische Besatzungstruppen besetzen die Frankfurter Farbwerke Hoechst und in Ludwigshafen die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF). Auch hier ist die Empörung der Bevölkerung groß.

16.5.1923

Mehrere demokratische Politiker, darunter Otto Wels (SPD) und Otto Nuschke (DDP), gründen die Gesellschaft Buch und Presse. Sie soll – mit Staatsmitteln finanziert – in der Bevölkerung den republikanischen Staatsgedanken stärken.

17.5.1923

Die sächsische Regierung überträgt den Proletarischen Hundertschaften hilfspolizeiliche Aufgaben, wissend, dass diese weitgehend unter dem Einfluss der KPD stehen. Die Zusammenarbeit der SPD mit der KPD in Sachsen trifft nicht nur bei der politischen Rechten auf Skepsis und Ablehnung.

18.5.1923

In der Frankfurter Paulskirche erinnern Vertreter der deutschen Länder und Reichspräsident Friedrich Ebert an die erste Nationalversammlung 1848, also vor 75 Jahren. Auch der Präsident des österreichischen Nationalrates nimmt teil. Nur die bayerische Regierung fehlt.

19.5.1923

Erneut steht die Einheit des Reiches auf dem Spiel. In Trier findet ein Putschversuch von rheinischen Separatisten statt, der aber am Widerstand der Bevölkerung und der Polizei scheitert, obwohl die Putschisten auf den Schutz der französischen Besatzungsmacht bauen können.

20.5.1923

Auf dem Heidelberger Schloss findet zur Erinnerung an die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 eine republikanische Gedenkfeier statt. „Heute könne sich die deutsche Einheit nur in der republikanischen Staatsform erhalten und darum müsse diese mit allen Kräften verteidigt werden, so der Festredner.

21.5.1923

Der Kaufmann Walter Frömel schreibt Adolf Hitler einen Brief und schlägt vor, ein „arisches Adressbuch“ herauszubringen. So könne man die Bevölkerung aufklären, damit diese „weder von Judenfirmen etwas kaufen noch an sie verkaufen“. Schreiben wie diese werden in der Münchner Parteizentrale der NSDAP aufmerksam gelesen. Die Saat des Antisemitismus ist längst ausgebracht.

22.5.1923

Reichskanzler Wilhelm Cuno blamiert sich. Der ehemalige Freikorpsführer und Republikgegner Roßbach wird vom Kanzler empfangen. Der behauptet danach, er habe nicht gewußt, wer Roßbach sei. Der Lübecker Volksbote meint: „Aufklärung über den Rechtsbolschewismus“ tue not.

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-116.pdf

23.5.1923

Der Brotpreis wird sich verdoppeln, nachdem die Reichsregierung die Abgabenpreise der Reichsgetreidestelle von 200.000 Mark auf 800.000 Mark vervierfacht hat. Mit höheren Löhnen soll das für die Bevölkerung „tragbar“ bleiben. Die Inflation wird weiter angefeuert.

24.5.1923

In der Bad Orber Kinderheilanstalt dürfen sich Kinder aus dem Ruhrgebiet erholen. Das Kinderheim profitiert dabei von den vielerorts durchgeführten amerikanischen Kinderspeisungen. Auch aus England erhält die Einrichtung eine großzügige Spende. Die Not der Kinder berührt auch die ehemaligen Kriegsgegner.

25.5.1923

Der Stummfilm „Das Wirtshaus im Spessart“ passiert die Reichsfilmzensur und wird heute im Lichtspiel-Palast „Alhambra“ in Berlin uraufgeführt. Die berühmte Münchner Volksschauspielerin Elise Aulinger spielt eine der Hauptrollen. Regie führt Adolf Wenter.

26.5.19123

Auf der Golzheimer Heide in Düsseldorf wird der ehemalige Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter von einem französischen Erschießungskommando hingerichtet. Die Empörung ist über Parteigrenzen hinweg groß. Anschließend wird Schlageter als Held gefeiert. Die Menschen identifizieren sich mit ihm, weil er das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den Franzosen verkörpert.

27.5.1923

Bei berühmten Trabrennen in Berlin-Ruhleben geht Carl Weidmüller im Sulky in einer Zeit von 1:32,1 durchs Ziel. Es ist bewölkt und regnet leicht. Die Damen tragen schicke Hüte.

28.5.1923

Erstmals begegnen sich am Rande eines Vortrags Ilse Frank und Walter Gropius. Er nennt sie bald nur noch Ise und im schon Oktober werden beide heiraten. Sie wird nicht nur seine Sekretärin und Lektorin, sondern seine engste Beraterin und zuständig für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit.

29.5.1923

Die Magdeburger Volksstimme titelt: „Neue Putsche im Ruhrgebiet“. Die Zeitung fordert bessere Arbeitsbedingungen, um den Kommunisten den Nährboden zu entziehen. Allein in Bochum sterben bei Straßenkämpfen 18 Menschen und 80 werden verwundet. „Auch bei Dortmund ist es zum Kampfe gekommen, der Todesopfer gekostet hat. Die Kommunisten rücken dort gegen die Zeche Minister Stein vor.“ Die sozialdemokratischen Arbeiter bilden einen Selbstschutz und vertreiben unterstützt durch die Polizei die Aufständischen.

30.5.1923

Der Leipziger Hammer Verlag kündigt die 29. Auflage des antisemitischen Machwerks „Das Handbuch der Judenfrage“ von Theodor Fritsch an. Fritsch war schon im Kaiserreich einer der bekanntesten Antisemiten. Er hetzt weiter gegen die deutschen Juden.

31.5.1923

Die Regierung im Volksstaat Hessen veröffentlicht eine Verordnung, die den Beamten das Tragen von Abzeichen jeder Art mit Ausnahme der Reichs- und Landesfarben und der verliehenen Kriegsauszeichnungen untersagt.

1.6.1923

Das Reichsmieterschutzgesetz tritt in Kraft, um die steigende Wohnungsnot zu lindern. Mit dem Bau von über zwei Millionen neuen Wohnungen und dem Schutz vor der Willkür der Vermieter soll die Lage auf dem Wohnungsmarkt verbessert werden.

2.6.1923

Das Karlsruher Tageblatt berichtet: „Eine Fabrikarbeiter, Kriegerwitwe, die bereits drei eheliche und zwei uneheliche Kinder besaß, hatte einem Kinde im Beisein einer Krankenschwester das Leben gegeben. Sie ließ sich dazu hinreißen, das Neugeborene in Abwesenheit der Schwester in den Bettkissen zu ersticken. Die kleine Leiche ließ sie von dem ältesten Kind, einem 12jährigen Knaben, der von der gewaltsamen Tötung keine Kenntnis hatte, im Keller unter den Kohlen verstecken. Doch konnte der Sachverhalt bald festgestellt werden.

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=2.6.1923

3.6.1923

Beim Reichs-Arbeiter-Sporttag treten die Athleten des Arbeiter-Turn und Sportbundes gegeneinander an. Ein sportlicher Wettkampf mit den bürgerlichen Turn- und Sportverbänden wird nicht nur von diesen abgelehnt. Auch die Arbeiter „sporteln“ lieber unter sich. Mit über 600.000 Mitgliedern ist der ATSB der drittgrößte Sportverband im Reich nach der Deutschen Turnerschaft und dem DFB.

4.6.1923

In Berlin gibt es einen Maulkorberlass. Der gilt aufgrund eines Tollwutfalls aber nicht für die politische Debatte, sondern für Hunde. Hundebesitzer dürfen ihre Vierbeiner nur noch mit Maulkorb und an der Leine Gassi führen.

5.6.1923

Der Nervosität im besetzten Rheinland und Ruhrgebiet bleibt hoch bei der Besatzungsmacht. In Düsseldorf wird der Schüler Hans Hermes von einem französischen Soldaten erschossen. Die Umstände bleiben unklar.

6.6.1923

Viele Menschen sind angesichts der immer weiter steigenden Preise verzweifelt. In Leipzig kommt es zu Unruhen. Sechs Menschen sterben. Und auch in Oberschlesien beginnen die Bergarbeiter mit einem Streik.

7.6.1923

Reichskanzler Cuno wendet sich mit einem Memorandum an die Alliierten. Darin heißt es: „Deutschland erkennt seine Verpflichtung zur Reparation an. Die deutsche Regierung wiederholt ihr Ersuchen, eine Konferenz zu berufen, um den besten Weg zur Erfüllung dieser Verpflichtung zu vereinbaren.“ Die Reichsregierung hofft auf eine „unparteiische internationale Instanz“. Großbritannien zeigt sich offen, doch Frankreich stellt sich stur.

8.6.1923

Die Politikerin, Frauenrechtlerin und Pädagogin Helene Lange (DDP) erhält die Ehrendoktorwürde der Staatswissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen.

9.6.1923

In Berlin wird in einer feierlichen Zeremonie im Heinrich-von-Kleist-Park ein Denkmal für Gefallenen des Garde-Kürassier-Regiments eingeweiht. Die große Figur eines nackten stilisierten Krieges hält einen aufsteigenden Adler. Wieder wird die Größe der Vergangenheit beschworen.

10.6.1923

Im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft schlägt der Hamburger SV die Mannschaft von Union Oberschöneweide mit 3:0 und wird erstmals Deutscher Meister. Schiedsrichter Philipp Bruckner pfeift das Spiel vor 64.000 begeisterten Zuschauern im Deutschen Stadion in Berlin an. In der 34. Minute schießt. Otto „Tull“ Harder schießt den Führungstreffer für die Hamburger.

https://www.ndr.de/sport/fussball/Asbjoern-Halvorsen-Tull-Harder-HSV,hsv16200.html

11.6.1923

Heinrich von der Ohe vertraut seinem Tagebuch an: „Unser Kalb von 200 Pfund für 1.200.000 Mark verkauft. Noch nie in meinem Leben bin ich mit soviel Geld über die Straße gegangen. Aber es hat keinen Wert; denn ich kaufte mir gleich 6 Ztr. Mais und Gerste, die in Friedenszeiten etwa 50 Mark gekostet hätten, und bezahlte dafür 570.000 Mark. Damit war ich das halbe Geld wieder los.“

12.6.1923

In der Zeitschrift Jugendland des Bunds der Ringpfadfinder erscheint der Text zum Lied „Hohe Tannen weisen die Sterne“. Das Lied wird in der Bündischen Jugend bald allerorts gesungen. „Komm zu uns an das lodernde Feuer, An die Berge bei stürmischer Nacht. Schütz die Zelte, die Heimat, die teure, Komm und halte bei uns treu die Wacht.“ Wandervögel, Freischar und Pfadfinder wollen gemeinsam wandern, singen und einer nicht zu benennenden Sehnsucht nachstreben.

13.6.1923

Der Ehemann von Käthe Kollwitz feiert heute Geburtstag. Sie schreibt in ihr Tagebuch: „Karl 60 Jahre alt. Auf seinem Tisch brennen 60 Lichtchen, um die herum lauter bunte Blumen. Von den Lichtern erleuchtet: die Großeltern in dem Rahmen, den mir Peter einmal schenkte.“ Peter ist ihr gefallener Sohn. Sie vermisst ihn.

14.6.1923

Die Eltern Julia und Alfred Kerr sind stolz und glücklich. Heute hat ihre Tochter Judith Licht der Welt erblickt. Bei der Geburt eines Mädchens sprechen die Väter im Judentum oft den Segen Schehecheyanu. Und irgendwann kaufen sie der kleinen Judith ein rosa Kaninchen.

15.6.1923        

Skandal im hessischen Landtag. Nachdem der ehemalige Großherzog Ernst Ludwig per Gerichtsurteil Abfindungsgelder zugesprochen wurden, behauptet ein Abgeordneter, diese würden für „hochverräterische Zwecke“ verwendet.

16.6.1923

„Das Ruhrgebiet vollständig abgesperrt“ meldet der Lübecker Volksbote. „Der Blut-Terror“ heißt es in den Münchner Neuesten Nachrichten. „Eine Anklage gegen Frankreich“ titelt die Börsen-Zeitung. Und das Jeversche Wochenblatt fordert: „Unbedingte Aufrechterhaltung des passiven Widerstands“.

17.6.1923

Mehrere tausend Radfahrer tummeln sich im Kurpark von Bad Schmiedeberg bei Wittenberg. Sie sind nicht zufällig mit ihrem Drahtesel dorthin geradelt, denn heute wird des Bundesdenkmal des Bundes Deutscher Radfahrer feierlich eingeweiht. Es soll an die Gefallenen des Weltkrieges erinnern, eine Mahnung zur Einigkeit im deutschen Radsport sein und die „Radfahrertreue“ dokumentieren. (mit Bild, historische Postkarte)

18.6.1923

Streit in der Bildungspolitik. Der Reichstag erlaubt den Bekenntnisschulen, Schulbücher und Lehrpläne „der Eigenart dieser Schule“ anzupassen. Die SPD protestiert. Selbst im katholischen Bayern gab es bis dato einheitliche Schulbücher für alle Schulen.

19.6.1923

Ein außenpolitischer Erfolg für die Republik. Der Reichstag ratifiziert die Ausweitung des Rapallo-Vertrags auf die gesamte Sowjetunion. Im Vertrag ist der Verzicht auf Reparationen festgelegt.

20.6.1923

Der deutsche Kommunist Karl Radek plädiert in einer Rede in Moskau anlässlich des Todes von Albert Leo Schlageter dafür, eine völkisch-kommunistische Einheitsfront gegen die Demokratie zu bilden. Man sieht mit Sorge, wie viele Arbeiter sich Parteien wie der NSDAP zuwenden.

21.6.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet: „Dem Metzger, aus dessen Laden die verdorbene Wurst, die die hiesigen Darmerkrankungen verursachten, gekauft waren, wurde der Laden geschlossen. Mehrere Erkrankte schweben in Lebensgefahr.“

22.6.1923

Am Isartor in München überfallen Schläger der SA den jüdischen Vizepräsidenten der Handelskammer München, Siegmund Fränkel, und verprügeln ihn. Er wird als „Saujud“ beschimpft.

23.6.1923

Der Deutsche Gewerkschaftsbund plädiert für die Fortführung des passiven Widerstands im Ruhrgebiet. Erst nach dem Abzug von Franzosen und Belgiern dürfe dieser beendet werden.

24.6.1923

Ein Jahr nach dem Mord an Walter Rathenau findet im Reichstag eine Gedenkveranstaltung statt. Es gibt Bestrebungen, diesen Tag zu einem Gedenktag der Republik zu machen. Konrad Haenisch, Vorsitzender des Republikanischen Reichsbundes, fordert in seiner Rede: „Es wird in Zukunft für das deutsche Volk und seine Republik nicht nur zu arbeiten und zu kämpfen sein, sondern, wenn es nottut, auch zu sterben.“

25.6.1923

Die Gerüchteküche brodelt. Immer wieder wird kolportiert, die NSDAP und Hitler würden von reichen Geldgebern profitieren. Einer sei der amerikanische Milliardär Henry Ford. Die Partei dementiert und zieht vor Gericht, um die Gerüchte zum Verstummen zu bringen.

26.6.1923

Die französischen Besatzungstruppen versuchen unerbittlich den eigenen Machtanspruch durchzusetzen. Innerhalb von vier Tagen müssen 1500 Eisenbahnerfamilien das Rheinland verlassen. Die Mitarbeiter der Reichsbahn weigern sich, für die Franzosen zu arbeiten.

27.6.1923

Heute berichtet das Karlsruher Tageblatt von der Aufdeckung eines politischen Mordes. „Roßbachleute“ haben einen Abtrünnigen „betrunken gemacht, dann erschlagen und die Leiche in einem Wald vergraben, weil sie ihn im Verdacht des Doppelspiels mit der Kommunistischen Partei hatten. Der ehemalige Freikorpsführer Gerhard Roßbach ist einer der wichtigsten Köpfe der politischen Rechten.

Nachzulesen über https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

28.6.1923

Papst Pius XI. ruft Frankreich zur Mäßigung gegenüber dem Schuldner, gemeint ist das Deutsche Reich, auf. Die französische Regierung ist empört. Die Deutschen mahnt er, ihre im Versailler Vertrag eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Die deutsche Regierung ist verschnupft. Als Papst kann man es nur schwerlich jedem recht machen.

29.6.1923

Die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt in Stockholm gegen Schweden und verliert am Ende mit 1:2. Dass das Spiel überhaupt stattfindet, ist ein Schritt zurück zur Normalität im internationalen Sportverkehr und damit ein großer Erfolg für die junge Republik.

30.6.1923

Die Gewalt schlägt zurück: Bei einem Anschlag auf die Rheinbrücke bei Duisburg sterben neun belgische Soldaten. In der Folge spricht ein französisches Kriegsgericht weitere Todesurteile. In einem Weißbuch veröffentlicht die Reichsregierung die Gewalttaten der französischen und belgischen Truppen gegen die deutsche Zivilbevölkerung.

1.7.1923

Die Dorner Ölmotoren AG geht an die Börse. Der Ingenieur Hermann Dorner hat das Unternehmen gegründet und er entwickelt das weltweit erste in Serie gebaute Auto mit einem Dieselmotor, das Modell 3/10 PS. Angetrieben wird das Kfz von einem luftgekühlten V2-Motor mit 4,5 PS.

2.7.1923

Es knirscht zwischen Briten und Franzosen. Auf der Insel sieht man die harte Politik Frankreichs gegenüber dem Reich mit Unverständnis. Vor dem Völkerbund wir die Lage im Saargebiet untersucht, das ebenfalls französisch besetzt ist. Die Besetzung des unter französischer Verwaltung stehenden Saargebiets wird als vertragswidrig verurteilt. Ein Erfolg für die deutsche Regierung.

3.7.1923

Eine Mitarbeiterin der Frankfurter Gesellschaft für Sozialforschung schreibt den kompletten Katalog der Bibliothek des Nationalökonomen und Soziologen Werner Sombart ab. Die Bibliothek soll verkauft werden. Auch der berühmte Volkswirt kommt in der Inflation wirtschaftlich kaum über die Runden. „Die gerade von den reichsten Herren Geschäftsleuten immer befürwortete Arbeitsteilung, wonach uns Professoren der Idealismus und der Verzicht zusteht, ist gewiß sehr hübsch gedacht, hat aber doch für uns ihr Mißliches“ schreibt Sombart.

4.7.1923

Um die eigenen Soldaten künftig vor Anschlägen auf Züge zu schützen, führen die Franzosen ein System ein, dass prominente Deutsche zwingt, Zug zu fahren. Sie sind menschliche Schutzschilde. Es werden Listen veröffentlicht, wer man mit dem Zug zu fahren hat. Auf den Listen finden sich Ärzte, Anwälte, Geistliche, Beamte und Geschäftsleute.

5.7.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt kündigt das kurhessische Verbandsschießen auf dem neuen Schießplatz des Schützenvereins „Barbarossa“ an. Allerdings wird „von einem öffentlichen Volksfest in Anbetracht der so schweren Zeit abgesehen und auch aus demselben Grunde schon auf den obligatorischen Festball verzichtet.“

6.7.1923

Der erste 500.000 Mark Schein verlässt die Druckerpresse der Reichsdruckerei in Berlin. Die Banknote über eine Million Mark ist bereits in Vorbereitung. Die Inflation gewinnt an Fahrt.

7.7.1923

Die NSDAP diskutiert die Strategie mit Blick auf das bald beginnende Deutsche Turnfest in München. Ursprünglich wollte man die Veranstaltung stören, da auch jüdischen Turnern die Teilnahme erlaubt ist. Doch die Partei entscheidet: „Unser Führer Hitler hat sich zu der Auffassung bekannt, dass eine Störung des Turnfestes uns nur zum Schaden gereichen könnte.“ So kann man es später in einem Polizeiprotokoll nachlesen. Auf der Parteisitzung ist ein Spitzel anwesend.

8.7.1923

Käthe Kollwitz feiert heute Geburtstag. Doch zum Feiern bleibt der engagierten Künstlerin wenig Zeit. Adolf Heilborn arbeitet fieberhaft an einer Monografie, um ihr künstlerisches Werk, das Radierungen, Litografien, Holzschnitte, Zeichnungen und Plastiken umfasst, vorzustellen. Sie ist Mitglied der berühmten Berliner Secession und arbeitet an gegen die soziale Ungerechtigkeit ihrer Zeit. Ende des Jahres zeichnet sie im Auftrag der Internationalen Arbeiterhilfe das Bild „Deutschlands Kinder hungern“.

https://www.kollwitz.de/plakat-deutschlands-kinder-hungern

9.7.1923

Am heutigen Tag wird das Biersteuergesetz verkündet. Brauereien, die mehr al 60000 Hektoliter Bier brauen, zahlen pro Hektoliter eine Steuer in Höhe von 5000 Mark. Da Bayern nach der Gründung der Republik das Recht verloren hat, die Biersteuer selbst festzulegen, bleibt dem Freistaat nur noch eine Beteiligung an den Einnahmen. Immerhin 13,55 Prozent des Steueraufkommens wird nach München überwiesen.

10.7.1923

Gestern kam es in Nowawes, einem Ort in der Nähe Potsdams, zu Unruhen. Die Menschen ertragen die hohen Preise nicht mehr. Eine aufgebrachte Menge zieht durch den Ort und zwingt die Händler, ihre Waren zu niedrigeren Preisen anzubieten. Manche Händler verschenken daraufhin aus Angst die von ihnen angebotenen Produkte.

11.7.1923

Käthe Kollwitz geht es nicht gut: „All das von außen Kommende: meine körperlichen Beschwerden, mein schweres Einstellen zu der neuen Aufgabe, alles und alles zusammen hat zur Folge, dass ich künstlerisch wie tot bin. Ganz anders als wie ich es mir im Krankenhaus dachte, dass mein neugeschenktes Leben sein sollte.“

12.7.1923

Das Organ der KPD, „Die Rote Fahne“, veröffentlicht heute einen Aufruf „An die Partei!“, der an Radikalität nicht zu übertreffen ist. Die martialische Sprache und das Bekenntnis zur Gewalt sorgen nicht nur bei der Reichsregierung für Alarm, sondern verschrecken auch manchen neu gewonnenen Sympathisanten der Partei.

13.7.1923

Die Sorgen werden nicht weniger. August Heinrich von der Ohe notiert im Tagebuch: „Sense gekauft für 70.000 Mark. Ein Zentner alte Kartoffeln kosten 120.000 Mark. Wir kauften in Celle Nahrungsmittel und Kleidung für eine Million Mark.“

14.7.1923

Der junge Max Schmeling ist von seinem Arbeitgeber nach Mülheim am Rhein versetzt worden. Dort wird er Mitglied im Mülheimer Box-Club. Abends geht er nicht ins Kino, sondern steigt in den Ring. Er trainiert wie ein Besessener. Später erinnert er sich: „Damals glaubte ich noch, daß man nur zum Erfolg kommt, wenn man ein übermenschliches Pensum an Arbeit leistet. Nach zehnstündiger Arbeitszeit lief ich noch 15 km auf der Straße und war voll und ganz der Absicht, mit diesen Gewaltkuren ein großer Champion zu werden.“

15.7.1923

Über 200.000 begeisterte Turnerinnen und Turner feiern das 13. deutsche Turnfest in München mit einem riesigen Festzug durch die Stadt. Auch einige Turner aus dem besetzten Ruhrgebiet marschieren mit. Sie tragen Banner wie „Wir wollen niemals Knechte sein!“ oder „Deutsch bleibt die Ruhr!“ Doch vielen ihrer Turnbrüder hat die französische Besatzungsmacht die Anreise untersagt. Das Turnen ist seit Turnvater Jahn eben auch eine politische Sache.

16.7.1923

Auch sportlich sorgt das Deutsche Turnfest in München für Aufsehen. Der Turner Martin Gebhardt von der Frankfurter @eintracht turnt erstmals einen Flick-Flack.

17.7.1923

Die Berliner Charité wird ihrem Ruf gerecht. Am dortigen Institut für Krebsforschung wird eine neue Abteilung für experimentelle Zellforschung eingerichtet, die Behandlungsmethoden für Krebserkrankungen erforschen soll.

18.7.1923

Das Auswärtige Amt beklagt die Diskriminierung der deutschen Minderheit in den jetzt polnischen Gebieten. In den letzten Jahren haben über eine halbe Millionen Deutsche die früher preußischen Provinzen verlassen. „Die Umstände dieser Abwanderung, die für die Betroffenen vielfach Verarmung und Elend mit sich brachte, beweisen, dass sie in der Mehrzahl der Fälle nicht freiwillig vor sich ging.“ Die „Entdeutschung“ der westlichen Provinzen Polens geschehe planmäßig, so der Vorwurf des AA.

19.7.1923

Die KPD ruft für heute zu einem „Antifaschistentag“ im Reich auf. Mal will testen, wie groß der Einfluss auf die Massen ist. Die Reichsregierung will die öffentlichen Aufmärsche verbieten, weil man Angst vor einem Umsturzversuch hat. Doch die KPD meidet die Konfrontation vorerst. „Wir müssen im Auge behalten, dass wir momentan noch schwächer sind.“

20.7.1923

Max Liebermann feiert heute Geburtstag. Er wird 76 Jahre alt. Der Präsident der Preußischen Akademie der Künste malt immer noch. „Birkenweg in Wannsee nach Westen“ heißt eins seiner in diesem Jahr entstandenen Werke. Das Bild hat er im Garten seiner Villa gemalt. Dort verbringt er den Sommer. Fernab des Getöses rund um sein Stadtpalais am Brandenburger Tor.

https://liebermann-villa.de/ausstellungen/dauerausstellung/

21.7.1923

Die „Rheinische Vereinigung“, ein Zusammenschluss der Separatisten Joseph Smeets, Hans Adam Dorten und Joseph Friedrich Matthes wird gegründet. Die Einheit der Nation, der Grundkonsens zwischen allen Parteien des Reichstages, wird infrage gestellt.

22.7.1923

Julius Hirsch, der vor dem Weltkrieg einer der erfolgreichsten deutschen Fußballnationalspieler war, erlebt ein spätes Comeback. Vor 8000 Zuschauern läuft er für die süddeutsche Auswahl auf und erzielt gegen die Zentralschweiz ein Tor. Das Spiel endet 3:3. Hirsch ist Jude. Aus dem Krieg ist er als Leutnant hoch dekoriert zurückgekommen. Er wird 1943 im KZ Auschwitz- Birkenau ermordet.

23.7.1923

Inzwischen hat sich die Lage in Breslau wieder beruhigt. Dort war es in den letzten Tagen zu Ausschreitungen gekommen. Die Menschen plünderten Geschäfte, die Gewalt eskaliert. Die Polizei greift hart durch. Sechs Menschen werden getötet, viele verletzt.

24.7.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt berichtet von einem Naturschauspiel: „Am Donnerstag hatten die Birsteiner Gelegenheit, eine sehr seltene Lichtspiegelung zu sehen. Unsere liebe Sonne, die auch an diesem Tage ihre heißen Strahlen zur Erde herabsandte, war von einem prächtigen Regenbogenhof umgeben, der mit unbewaffnetem Auge von vielen Birsteinern bewundert wurde.“

25.7.1923

Die Lebensmittel werden knapp. In Berlin findet der Verkauf von Kartoffeln unter Polizeischutz statt, weil man Angst vor Ausschreitungen hat und die Händler nicht mehr Herr der Lage sind.

26.7.1923

Heute feiert der Maler und Karikaturist George Grosz seinen 30. Geburtstag. Im Revolutionsjahr 1918 war er in die KPD eingetreten. Nach einer Russlandreise im vergangenen Jahr ist seine Ablehnung gegen jede Form der diktatorischen Obrigkeit aber so ausgeprägt, dass er aus der Partei wieder austritt. Ein Kritiker der Herrschenden bleibt er aber auch in der Weimarer Republik.

27.7.1923

In München beginnt heute der 19. Deutsche Feuerwehrtag. „So wird in den nächsten Tagen das Straßenbild eine starke Belegung durch die schwarz und rot uniformierten Feuerwehrleute mit ihren blinkenden Helmen erhalten“, freuen sich die Münchner Neuesten Nachrichten.

28.7.1923

Das Wetter passt zur Stimmung im Land. Die Hälfte der Tage im Juli sind Regentagen. Mit 16,7 Grad Höchsttemperatur und viel Regen ist auch dieser Samstag in Bremen kein Tag, bei dem man bei einem Ausflug oder Bummel die Sorgen des Alltags vergessen kann.

29.7.1923

In Koblenz wirbt Hans Adam Dorten für eine Rheinische Republik und die Loslösung im Deutschen Reich. Er hetzt gegen Berlin: „Als hier Kunst und Wissenschaft schon in höchster Blüte stand, da war in Berlin noch ein elender, moderner Spreesumpf. Und dieser Sumpf verpestet heute ganz Deutschland.“ Frankreich unterstützt die Bestrebungen der Separatisten vielfach mehr oder weniger offen. In diesem Fall erhält Dorten 10.000 Francs zur Finanzierung der Kundgebung.

30.7.1923

Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) weist die erneut im „Vorwärts“ veröffentlichten Zweifel an der Verfassungstreue der Reichswehr zurück. Auch Generaloberst Hans von Seeckt, oberster Soldat der Reichswehr, fühlt sich genötigt, zu den wiederkehrenden Vorwürfen Stellung zu nehmen: „Zu einer derartigen Anfrage, die einen Zweifel an unserem Eide darstellt, ist niemand berechtigt.“

31.7.1923

Bei einem schweren Zugunglück sterben in der Nacht vom 30. Auf den 31. Juli 48 Menschen, 30 werden verletzt. Ein D-Zug übersieht ein Signal und im Bahnhof von Kreiensen bei Einbeck kommt es zur Katastrophe. Gerhard Domagk, der spätere Nobelpreisträger, überlebt nur, weil er zum Zeitpunkt des Unglücks ausgestiegen war, um sich etwas zu trinken zu holen.

1.8.1923  

Heinrich Himmler, der Sohn des Schulleiters des Münchner Wittelsbacher Gymnasiums, tritt heute in die NSDAP ein. Adolf Hitler, der Parteivorsitzende, beeindruckt ihn. Himmler ist einer von vielen. Die Partei erlebt einen enormen Zustrom an neuen Mitgliedern in diesen Tagen.

2.8.1923

Wie vielerorts leiden die Menschen auch in Kiel Not. Auf dem Wochenmarkt gibt es kaum noch Kartoffeln zu kaufen. Die Polizei muss die Händler schützen, die von den Hausfrauen, die dort warten, regelrecht belagert werden. Alte Menschen, deren Rente nicht mehr reicht, sieht man beim Betteln.

3.8.1923

In der Danziger Volksstimme, dem Organ für die werktätige Bevölkerung der Freien Stadt Danzig, erscheint eine Anzeige, die für „Kunstaugen für Kriegsbeschädigte“ wirbt. Ein Augenkünstler ist vom 12. bis 14. April in der Stadt. Weiter heißt es: „Anträge sind vorher beim Hauptversorgungsamt unter Vorlage der alten Augen zu stellen.“

http://library.fes.de/danzig/pdf/1923/1923-077.pdf

4.8.1923

In Wiesbaden plündern Not leidende Menschen Geschäfte. Es kommt zu Krawallen. Die Polizei muss einschreiten.

5.8.1923

In Berlin gehen die ersten Bundesmeisterschaften der Leichtathletik des Arbeiter-Turn- und Sportbundes zu Ende. Insgesamt 472 Männer und 117 Frauen sind gestartet. Den Fußballer-Dreikampf (100m, Ballweitstoß, Balltreiben) gewinnt Max Fischer vom ATV Schwabach.

https://www.deutschlandfunk.de/arbeiter-turn-und-sportbund-die-geschichte-des-deutschen-100.html

6.8.1923

In Berlin wird der Grundstein für den Bau einer Moschee gelegt. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat plant an der Ecke Riehl-/Dresselstraße in Charlottenburg die Errichtung eines Gotteshauses. Die Inflation wird die Fortführung des Projekts verhindern. Erst 1928 kann die Moschee eingeweiht werden.

7.8.1923

Die Berichte von Auseinandersetzungen zwischen Land- und Stadtbevölkerung nehmen zu. Manche Städter fahren zum Betteln aufs Land oder bieten Wertgegenstände zum Tausch gegen Lebensmittel an. Doch einige schließen sich zu Gruppen zusammen, bedrohen Bauern und zwingen sie, Schinken, Eier und Getreide günstig abzugeben. Die Bauern wehren sich teilweise mit der Waffe in der Hand.

8.8.1923

Viktor Klemperer vertraut seinem Tagebuch an, dass er sich über die inzwischen immer stärker steigenden Preise kaum noch aufregen könne, weil „man dem in Permanenz erklärten Katastrophenzustand und den irrsinnigen Zahlen gegenüber abstumpft.“ Ein Brathering kostet inzwischen 75000 Mark und ein Kinoticket 50000 Mark.

9.8.1923

Sebastian Haffner beschreibt die Stimmung: „Unter soviel Leid, Verzweiflung und Bettelarmut, gedieh eine fieberhafte, heißblütige Jugendhaftigkeit, Lüsternheit und ein allgemeiner Karnevalsgeit. Zahllose Bars und Nachtklubs sprangen plötzlich auf. Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust.

10.8.1923

Erstmals wird der Georg-Büchner-Preis verliehen. Gestiftet hat den Preis der Landtag des Volksstaates Hessen in Erinnerung an den berühmten Schriftsteller. Die ersten Preisträger sind Adam Karrillon, Arzt und Schriftsteller, der für seine Reiseerzählungen und Heimatromane aus dem Odenwald bekannt ist, und Arnold Mendelsohn, ein Komponist und Musikpädagoge.

11.8.1923

Erstmals ist der 11. August, an dem 1919 die Weimarer Verfassung verkündet wurde, ein nationaler Feiertag. Reichspräsident Friedrich Ebert erklärt: „In schwerer Bedrängnis, rückblickend auf ein Jahr des Leidens und Duldens, vorwärtsschauend in eine dunkel verhangene Zukunft begeht heute Deutschland seinen Verfassungstag. Unglück verbindet: Mannesfaust schlägt ein in Mannesfaust! Frauenhand fasst Frauenhand! Lasst das Ergebnis dieses Tages mitten in der Not ein unerschütterliches Bekenntnis sein, ein Bekenntnis zum einigen, unteilbaren, der Zukunft trotz allem ungebeugt entgegenstehenden deutschen Reiche, zur deutschen Republik!“

12.8.1923

Aufgrund heftiger Proteste tritt die Reichsregierung unter Reichskanzler Wilhelm Cuno zurück. Der Mann ist fertig. Kurz vorher ist er bei Reichswehrminister Otto Geßler im Büro und sagt zu ihm: „Lassen sie mich hier ein paar Stunden stillsitzen, ich habe das Gefühl, über mir stürzt das Haus ein.“  

13.8.1923

Gustav Stresemann (DVP) wird neuer Reichskanzler und die neue Reichsregierung, eine Koalition aus SPD, DDP, Zentrum und DVP, wird vereidigt. Stresemann übernimmt gleich noch das Außenministerium. Anders als die Vorgängerregierung verfügt er über eine parlamentarische Mehrheit.

14.8.1923

Unter der Überschrift „Blutige Opfer“ berichtet die Magdeburger Volksstimme: „Die Lübecker Polizei lieferte am Sonnabend einen Beweis ihrer mangelhaften Erziehung, deren Folgen entsetzlich sind. Bei einer in diesen Tagen wirklich nicht seltenen Ansammlung löste sich das Gewehr eines Polizeibeamten. Dadurch gerieten die anderen Beamten so in Aufregung, daß sie zum Gewehr griffen und in die Menge feuerten. Sogar eine Handgranate wurde geworden. Zehn Opfer, darunter Frauen und Kinder, blieben auf dem Platze.“

http://library.fes.de/magdeburg/pdf/1923/1923-187.pdf   

15.8.1923

In Weimar wird die Bauhausausstellung eröffnet. Erstmals werden die am Bauhaus entstandenen Arbeiten gezeigt. Bauhausdirektor Walter Gropius proklamiert mit seinem Vortrag „Kunst und Technik“ einen Kurswechsel. Vor allem das Musterhaus Am Horn wird als Antwort auf die Wohnungsnot die Aufmerksamkeit der Besucher und der Medien finden.

https://www.bauhauskooperation.de/wissen/das-bauhaus/werke/graphische-druckerei/plakat-zur-bauhaus-ausstellung-in-weimar-1923/

https://www.bauhaus.de/de/bauhaus-archiv/2129_publikationen/5916_staatliches_bauhaus_weimar_1919_1923/

16.8.1923

So sah sich der junge Sebastian Haffner dieser Tage: „Ein schäbiger, etwas wild aussehender Sechzehnjähriger, der seinen Anzügen entwachsen war und einen Haarschnitt dringend nötig hatte, ging ich durch die fieberhaften, leprösen Straßen des inflationären Berlins mit der Haltung und dem Gefühl eines Mannschen Patriziers oder eines Wildeschen Dandys. Es tat diesen Gefühlen keinen Abbruch, dass ich am gleichen Morgen mit dem Dienstmädchen Schachteln Käse und Säcke Kartoffeln auf eine Karre gestapelt hatte.“

17.8.1923

Bei den deutschen Leichtathletikmeisterschaften läuft Emil Bedarff, der für die Sportgemeinde Eintracht Frankfurt startet, deutschen Rekord über 5000 Meter. Nach 15 Minuten und 14,2 Sekunden ist er im Ziel.

18.8.1923

Die Berliner Polizei verbietet wegen Hetze gegen die Reichsregierung das „Deutsche Tageblatt“ für zwei Wochen. Die Zeitung steht der Deutschvölkischen Freiheitspartei nahe.

19.8.1923

Die Sächsische Volksstimme meldet an diesem Sonntag: Das monatliche Abonnement der Zeitung wird für den folgenden Monat 250.000,00 Mark kosten. Da sollte man sich wirklich ausführlich Zeit für die Lektüre nehmen.

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/IPTI3OEEZE53VVRBIZHWGBXOC2ILYOY4?query=19.8.1923&hit=2&issuepage=2

20.8.1923

Diesen Sommer treten neun Frauen in der Kölner Frauenwohlfahrtspolizei ihren Dienst an. Unter der Leitung von Josephine Erkens kümmern sich die Frauen um so genannte „gefallene Mädchen“. Vorbild hierfür sind entsprechende Einheiten in Großbritannien. Die Polizistinnen sollen sich um u.a. um obdachlose Frauen kümmern, die, wie es in einem Bericht heißt „Zeichen beginnender äußerlicher Verwahrlosung“ zeigen.

https://www.ksta.de/koeln/koelns-erste-polizistin-auf-patrouille-gegen-den-sittenverfall-37027970?cb=1664642953207&

21.8.1923

Die Inflation steigt und steigt. Als Finanzminister Rudolf Hilferding (SPD) an diesem Tag im Kabinett berichten soll, fasst er die Lage in folgendem Satz zusammen: „Es übertrifft die schlimmsten Erwartungen.“ Und er mahnt die anderen Minister, nach außen zu schweigen. Dringe die Wahrheit nach außen, dann könnte das unabsehbare Folgen haben.

22.8.1923

Der sächsische Ministerpräsident Erich Zeigner (SPD) kritisiert öffentlich die Reichswehr. Daraufhin untersagt der Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) dem örtlichen Reichswehrbefehlshaber, Generalleutnant Alfred Müller, den dienstlichen Umgang mit der sächsischen Landesregierung.

23.8.1923

Der deutsche Missionar Heinrich Vedder zelebriert heute die Totenmesse für Samuel Maharero. Der Führer der Herero hatte sein Volk in den Kampf gegen die deutschen Kolonialherren geführt. Vor kurzem war er an Krebs gestorben. Die Begräbnisfeierlichkeiten sehen fast so aus, als ob hier ein hoher Kolonialbeamter zu Grabe getragen wird, den man orientiert sich an dem überlieferten Ritus.

https://www.deutschlandfunk.de/die-langen-schatten-kolonialer-vergangenheit-100.html

24.8.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt berichtet heute aus dem fernen Berlin: „Infolge der ungeheuren Teuerung nehmen die Selbstmorde, bei denen Nahrungssorgen das Motiv der Tat sind, in der Reichshauptstadt erneut derart an Zahl zu, dass man fast von einer Selbstmordepidemie sprechen kann.“

25.8.1923

Das Calwer Tagblatt berichtet, dass in Heilbronn ein Betrügerpaar einen Schuhladenbesitzer um ein paar Stiefel geprellt hat. Beide hatten vorgegeben, aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen worden zu sein. Als Pfand hinterließen sie eine angeblich wertvolle Brillantbrosche, die sich als wertlos herausstellte.

26.8.1923

Reichskanzler Stresemann ist um Ausgleich mit Bayern bemüht. Er trifft sich mit Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling und reist demonstrativ nach München. Es ist die erste Landeshauptstadt, die er besucht.

27.8.1923

Die Lage ist verzweifelt. Die Reichsregierung hat nun eine Devisennotverordnung beschlossen. Wer dagegen verstößt, dem drohen hohe Geldstrafen und sogar Gefängnis. Aber ob man so den Bankrott des Staates abwenden und die Inflation wirksam bekämpfen kann? Niemand glaubt das.

28.8.1923

In Jever wird die 350jährige Gründungsfeier des Mariengymnasiums begangen. Die Schule will „Persönlichkeiten“ bilden. „Jünglinge, die wissen, was sie sollen und wollen., die fähig sind, sich selbst zu meistern“ und für die der Dienst am Staat „ihr höchster Beruf“ ist. So hört man in der Festrede.

29.8.1923

Siemens hat im August ein Joint Venture mit dem japanischen Furukawa-Konzern gegründet. Die Gesellschaft sitzt in Kawasaki. So soll der ostasiatische Wirtschaftsraum für Produkte der Elektroindustrie erschlossen werden. Das deutsche Unternehmen hält 30 Prozent der Anteile.

30.8.1923

Heute ist Donnerstag, ein Werktag. Und dennoch haben sich 100.000 Menschen auf den Weg gemacht. Die Reichsbahn muss Sonderzüge einsetzen. Auf der Wasserkuppe in der Rhön wird zur Erinnerung an die gefallenen Flieger des Weltkrieges ein monumentales Denkmal eingeweiht. Die Inschrift lautet: „Wir toten Flieger bleiben Sieger durch uns allein. Volk flieg du wieder und du wirst Sieger durch dich allein.“

31.8.1923

Im Berliner Tauentzienpalast feiert der an Originalschauplätzen in Lübeck von Gerhard Lamprecht nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann gedrehte Stummfilm „Die Buddenbroocks“ Premiere.

1.9.1923

In Nürnberg findet ein „Deutscher Tag“ statt. Die nationalen und völkischen Verbände marschieren auf. Die SA, der Bund Oberland und der Bund Reichsflagge schließen sich zum Deutschen Kampfbund zusammen. Nun verfügt Adolf Hitler, der zum politischen Führer des Kampfbundes wird, seine „Privatarmee“.

2.9.1923

Am symbolträchtigen 2. September, an dem in vielen Kreisen noch der Sedanstag, der Sieg über Frankreich 1871 gefeiert wird, betont Reichskanzler Gustav Stresemann die Verständigungsbereitschaft mit Frankreich.

3.9.1923

In Berlin stirbt der Pädagoge und Rabbiner Felix Coblenz. Er formulierte die „geeinte Zwienatur des deutschen Judentums“. Jüdische Tradition und deutscher Patriotismus als Einheit. In einer Predigt sagt er: „Wir lassen uns von denen nicht losreißen, deren Kultur die unsere ist, deren Sprache wir als unsere Muttersprache sprechen und deren Jammer und Not wir als unser persönliches Leid erleben. Der Boden, auf dem wir geboren und erzogen sind und in dem wir einmal begraben sein wollen, ist der heilige Mutterboden unseres deutschen Vaterlandes.“

4.9.1923

Auf der Grundlage des Republikschutzgesetzes wird „Die rote Fahne“, das Zentralorgan der KPD, wegen der unverhältnismäßig scharfen Attacken gegen die Reichsregierung für acht Tage lang in Preußen verboten.

5.9.1923

Im Ruhrgebiet entspannt sich die Lage etwas. In vielen Zechen vor allem im Essener Revier fahren die Bergleute wieder in den Berg ein. Ob man in Frankreich nun der neuen Reichsregierung entgegenkommt?

6.9.1923

Bei Hannover kommt es zu einem schweren Eisenbahnunglück. Insgesamt sterben 29 Menschen, 7 weitere sind schwer, 7 leicht verletzt. Die Ursache ist menschliches Versagen. Eine Weiche war falsch gestellt worden.

7.9.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt kündigt eine Theateraufführung für den kommenden Sonntag an. Das humorvolle Lustspiel „Der Scheidungsgrund“ versetze die Zuschauer „von Anfang bis Ende in angenehmste heiterste Laune“ und löse „stürmische Heiterkeit“ aus. Das kann man brauchen in Zeiten wie diesen.

8.9.1923

Der Touristenverein „Die Naturfreunde“ ist ganz mit den Alltagsfragen beschäftigt, die so ein Verein hat: Säumige Mitgliedsbeiträge, steigende Kosten. Da ist es nicht leicht „auf dem Boden des Klassenkampfes“ ein attraktives „Hüttennetz“ aufzubauen. Viele Arbeiter sind daher in den bürgerlichen Alpen- und Wandervereinen engagiert. Vielleicht aber auch, weil das Bergwandern durstig macht und manch ein Arbeiter auf ein kühles Bier hofft. „Die Naturfreunde“ beschließen allerdings: „Der Alkohol ist der größte Feind jedes geistigen und kulturellen Fortschrittes. Er zerstört die Gesundheit des Menschen, er raubt ihnen Glück und Freuden. Die alkoholfreie Bewirtschaftung aller Naturfreundehäuser und Ferienheime muss angestrebt werden. Ist die alkoholfreie Bewirtschaftung in einzelnen Häusern noch nicht möglich, so ist die Anbringung von Tafeln an sichtbarer Stelle mit der Inschrift: „Kein Trinkzwang“ zu empfehlen.“

https://www.fes.de/bibliothek/zeitschriften-digitalisierung/

9.9.1923

In Dresden marschieren die Proletarischen Hundertschaften auf, die für sich reklamieren, die Republik gegen die „Hitlerbanden“ zu schützen. In Berlin ist man nicht ganz so sicher, ob sie nicht auch gegen die Demokratie und für eine kommunistische Revolution bereitstehen.

10.9.1923

In München tagt der Landesverband im Nationalverband deutscher Offiziere. Schirmherr Kronprinz Rupprecht mahnt: Es gehe nicht um dynastische Fragen, sondern um „das Schicksal von Land und Reich“. Hindenburg, der in den bayerischen Bergen gerade Urlaub macht, entsendet Grüße.

11.9.1923

So kann es nicht weitergehen. Reichskanzler Gustav Stresemann nimmt inoffiziell Kontakt zu den alliierten Regierungen auf. Er hofft auf Zugeständnisse sollte die Reichsregierung den passiven Widerstand beenden.

12.9.1923

Reichskanzler Gustav Stresemann deutet vor Journalisten an, dass man die Wirtschaftskrise nur durch starke Einschnitte überwinden könne. Neben der Verlängerung der Arbeitszeit spricht er von immensen Belastungen und Veränderungen für „Besitz und Wirtschaft“.

13.9.1923

Beim Fußballspiel zwischen einer Berliner Arbeiter-Auswahl und einer sowjetischen Elf. Die Sportler aus der Heimat Lenins touren durch Europa, um die Überlegenheit des kommunistischen Fußballs zu dokumentieren. Doch dieser Einsatz fordert seinen Tribut: Die Sowjets bestehen auf Kost und Logis in den vornehmsten Hotels und genießen vor allem Berlin. Darunter leidet der „proletarische Charakter“ etwas. Man ist froh, als sie wieder abreisten.

https://www.deutschlandfunk.de/buchrezension-klassenkampf-auf-dem-fussballfeld-100.html

https://www.deutschlandfunk.de/arbeiterfussball-in-den-20er-jahren-vom-anspruch-den-100.html

14.9.1923

„Ausgerechnet Bananen!“ ist einer der beliebtesten Schlager des Jahres. Fritz Löher hat das us-amerikanische Original übersetzt und jetzt tanzt man nicht nur in Berlin Foxtrott zu seiner Wehklage: „Ausgerechnet Bananen Bananen verlangt sie von mir! Nicht Erbsen, nicht Bohnen, auch keine Melonen, das ist ein‘ Schikan‘ von ihr!“ Was will man machen, wenn die Liebste nach Bananen verlangt?

15.9.1923

Die Wiesn, das berühmte Münchner Oktoberfest, findet aufgrund der Inflation heuer nicht statt. Stattdessen organisiert der Bayerische Schützenverband ein Oktoberfestschießen. Neben „krachenden Böllern“ gibt’s auch da eine ordentliche Maß Bier.

16.9.1923

In Köln weiht Oberbürgermeister Konrad Adenauer das Müngersdorfer Stadion mit 80.000 Plätzen, die zu dieser Zeit größte Sportanlage in ganz Europa, ein.

17.9.1923

Der Lübecker Volksbote meldet: „Die fortschreitende Teuerung hat in Beuthen am Donnerstag zu Lebensmittelunruhen geführt. Die Polizei musste einschreiten. Die in der rechts- und linksradikalen Presse erscheinenden Berichte über das Vorgehen der Polizei und die Zahl der Opfer sind falsch.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-217.pdf

18.9.1923

An Thüringens Schulen wird das „Züchtigungsrecht“ der Lehrer aufgehoben. In Rudolstadt feiert die Schülerschaft das entsprechend. Mit Stinkbomben bewaffnet ziehen Halbstarke durch die Stadt und werfen ihre Geschosse in Geschäfte und auch ins Schulgebäude.

19.9.1923

Im Alten Theater Leipzig findet die Uraufführung des Theaterstücks Hinkemann statt. Regie führt Alwin Kronacher. Der Autor ist nicht anwesend. Ernst Toller sitzt in Niederschönenfeld in Festungshaft. Er war 1919 Vorsitzender der bayerischen USPD und muss nach der gescheiterten Münchner Räterepublik ins Gefängnis. Als Schriftsteller und Dramatiker ist er deutlich erfolgreicher als in der Politik. Bald kommt er frei, doch die „Not, die gegeben ist durch das menschliche Leben“ wird ihn nicht loslassen.

20.9.1923

Aus München ist zu hören: „In den letzten 10 Tagen mit ihren katastrophalen Entwicklungserscheinungen hat der einzelne, der nicht zur Zunft der Schieber und Wucherer gehört, mehr an Nervenkraft verbraucht als sonst in Jahren. Gestern konnte man im Innern der Stadt erregt diskutierende Gruppen sehen, die sich gegenseitig Beispiele von Not und Elend mitteilten.“

21.9.1923

Heute treten die jungen Offizieranwärter an der Münchner Infanterieschule ihren Dienst an. Sie sind aus allen Regimentern der Reichswehr in die Isarmetropole gekommen und erleben die aufgeheizte Stimmung dort. Manche hören zum ersten Mal von einem Mann namens Adolf Hitler.

22.9.1923

In Dresden kommt es zu Unruhen und auch zu Plünderungen. Polizei und Kommunisten schießen aufeinander. Anderenorts kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Rechts- und Linksradikalen. Die Gewalt droht weiter zu eskalieren.

23.9.1923

Franz Kafka steigt am Anhalter Bahnhof in Berlin aus dem Zug. Dort wartet Dora Diamant bereits sehnsuchtsvoll auf den an Tuberkulose erkrankten Schriftsteller. Er ist stolz auf seine „Tollkühnheit“, die Heimatstadt Prag und die Eltern verlassen zu haben. Das komme nur dem Zug Napoleons nach Russland gleich. Kafka ist zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt.

24.9.1923

Insgesamt sind 137 Menschen während des Ruhrkampfes ums Leben gekommen. Und nun scheint das Reich mit seinen Kräften am Ende. Gibt die Regierung nach? Wird der passive Widerstand beendet? Und wie reagiert die Bevölkerung nach den Entbehrungen der letzten Monate? Niemand weiß es.

25.9.1923

Die Not der Bevölkerung ist groß. In Preußen stellt die Regierung daher umfangreiche Mittel für eine Volksspeisung zur Verfügung. Die Zahl der Volksküchen nimmt weiter zu.

26.9.1923

Reichskanzler Gustav Stresemann erklärt das Ende des passiven Widerstands gegen die Ruhrbesetzung. Man hat den Franzosen die Stirn geboten. Vergebens. Nun sollen die erbrachten Opfer – wie schon im Krieg – umsonst gewesen sein? Auch wenn Stresemanns Entscheidung die einzig richtige zu sein scheint, die Empörung allerorten ist groß. Die Regierung rechnet erneut mit Unruhen. Der Reichspräsident verhängt den Ausnahmezustand über das Reich.

27.9.1923

Hitler will die Gunst der Stunde für sich nutzen. Er kündigt für den Abend 14 Kundgebungen in München an. Auf allen will er erscheinen und sprechen. Doch die Veranstaltungen werden verboten. Hitler tobt „Vierzehn Versammlungen, wegen vierzehn Versammlungen geraten die Herrschaften schon in Aufregung! Was werden die erst sagen, wenn wir einmal die ersten vierzehnhundert, nein, die ersten vierzehntausend an die Laternenpfähle hängen!“

28.9.1923

Die sozialdemokratische Magdeburger Volksstimme titelt: „Der Sturm bricht los!“ Der Reichspräsident hat den Ausnahmezustand verhängt. „Als Gegengewicht für den Ludendorff-Hitler-Putsch, mit dem weite Volksschichten rechnen, kommt außer den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Sozialdemokratie in der Hauptsache zunächst nur die bayerische Regierung in Frage mit ihrer Befehlsgewalt über die Polizei und eventuell über die Reichswehr. Es besteht kein Zweifel, daß die Regierung Knilling-Schweyer der Hitler-Ludendorff-Clique als Gegner gegenübersteht und daß sie gewillt ist, im Ernstfall mit allen ihr zu Gebote stehenden Machtmitteln einen Putschversuch entgegenzutreten.“

29.9.1923

Der Streit zwischen Bayern und der Reichsregierung eskaliert weiter. Der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr setzt das Republikschutzgesetz außer Kraft. Es gilt der Ausnahmezustand im Freistaat. Die Reichsregierung ist auch aufgrund der Krisen in Thüringen und Sachsen nicht in der Lage, sich gegenüber Bayern durchzusetzen. Die Reichswehr in Bayern sympathisiert mit Kahr.

Dort sieht man sich außerstande, dass am Vortag verhängte Verbot des „Völkischen Beobachters“ durch das Reichswehrministeriums aufgrund eines verunglimpfenden Artikels über Reichskanzler Stresemann und den Heereschef von Seeckt umzusetzen.

30.9.1923

Die deutschen Bischöfe verfassen einen Hirtenbrief, in dem sie Völkerverständigung aufrufen und den Nationalismus brandmarken. Der Hirtenbrief wird heute in der Messe in allen katholischen Kirchen im Lande verlesen.

1.10.1923

Erstmals ist Adolf Hitler zu Gast in „Wahnfried“. Winifred Wagner hat ihn eingeladen. Die gebürtige Engländerin ist eine frühe Verehrerin Hitlers. Der trifft in Bayreuth auch Houston Stewart Chamberlain, den glühenden Antisemiten, Schriftsteller und Schwiegersohn Cosima Wagners, die die Festspiele ideologisch prägen wird. Ab 1924 wird Hitler dann wie andere auch wieder Musik auf dem Grünen Hügel huldigen.

https://www.br-klassik.de/themen/bayreuther-festspiele/geschichte/wagner-geschichte-102.html

2.10.1923

Die Zeitungen im Reich berichten von dem gescheiterten Putschversuch des ehemaligen Majors Bruno Ernst Buchrucker in Küstrin. Dort wollte er mit ihm unterstellten Verbänden der so genannten schwarzen Reichswehr die Republik, weil er nicht bereit ist, das Ende des passiven Widerstands gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets hinzunehmen. Die Reichswehr macht kurzen Prozess. Der dilettantische Putsch scheitert nach wenigen Stunden.

3.10.1923

Überall im Reich hungern die Kinder, die Säuglingssterblichkeit steigt, viele Kinder haben keine ausreichende Kleidung. Die Hälfte der Kinder gilt als unterernährt. Krankheiten verbreiten sich. Die Britin Eglantyne Jebb, die später die „Mutter“ der Kinderrechte wird, will das Elend nicht länger mit anschauen. Sie ist schockiert. Mit ihrer Wohltätigkeitsorganisation „Save the Children“ will sie den Kindern der ehemaligen Kriegsgegner helfen.

https://www.spiegel.de/geschichte/save-the-children-wie-eglantyne-jebb-fuer-kinder-kaempfte-a-1301736.html

4.10.1923

Die 15. Internationale Automobil Ausstellung @iaamobility in Berlin ist mit 653 Ausstellern ein großer Erfolg. Rund 300.000 Besucher strömen in die Messehallen am Berliner Kaiserdamm. Die gerade erst gegründete Firma Horex präsentiert dort ihr erstes Motorrad. Der 22jährige Gründer Fritz Kleemann ist mächtig stolz. Benz &Cie. @mercedesbenz_de hat erstmals zwei Hallen gemietet, um die eigenen Autos zu präsentieren.

https://group-media.mercedes-benz.com/marsMediaSite/pic/de/6679906

5.10.1923

Nach endlosen Debatten einigt man sich in der Frage der Arbeitszeitregelung. Die Industrie will den Achtstundentag, ein Erfolg der Revolution 1918, wieder kassieren. Doch der bleibt nun. Allerdings können durch tarifliche und gesetzliche Vereinbarungen Ausnahmen beschlossen werden. Mit dem Kompromiss kann auch die SPD leben und wieder in die Regierung eintreten.

6.10.1923

Gustav Stresemann bleibt Reichskanzler, stellt aber sein neues Kabinett vor. Stresemann verteidigt im Reichstag das Ende des passiven Widerstands im Ruhrgebiet. „Aber was fehlt uns im deutschen Volke? Uns fehlt der Mut zur Verantwortlichkeit!“

7.10.1923

Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer wird aus dem Krankenhaus entlassen. Er hat sich einer Blinddarmoperation unterziehen müssen. Er ist rechtzeitig zurück auf der politischen Bühne, denn separatistische Kräfte schüren die schon vorherrschende Unruhe. Den Franzosen ist das recht und die Reichsregierung ist in Sorge.

https://www.konrad-adenauer.de/biographie/seite/konrad-adenauer-koelner-oberbuergermeister-1917-1933/

8.10.1923

Ist es ein Zeichen der Hoffnung in diesen wirtschaftlich desaströsen Zeiten? Heute erhält der Flughafen Berlin-Tempelhof die vorläufige Betriebserlaubnis. Die ersten beiden offiziellen Flüge führen nach Danzig und München. Mehrere hundert Menschen schauen staunend und begeistert zu. Innerdeutsche Flüge sind eine Sensation. Man muss nicht mehr mit dem Zug fahren. In den 1930er Jahren wird der Flughafen die höchsten Passagierzahlen Europas verzeichnen können.

9.10.1923

Hauptmann Eduard Dietl ist als Lehrer an der Infanterieschule in München eingesetzt und zugleich Kompaniechef in seinem Münchner Regiment. Die jungen Infanterieschüler sind erstaunt, wie locker der Umgangston in seiner Kompanie ist. Wenn die Soldaten ihrem Chef Dietl ein lautes „Büffel“ zurufen, wenn er über den Hof geht, dann winkt dieser fröhlich zurück. Sowas gibt es bei den Preußen nicht. Dietl war Mitglied der NSDAP, musste aber wieder austreten. Offizieren der Reichswehr ist die Mitgliedschaft in einer politischen Partei verboten.

10.10.1923

August Heinrich von der Ohe schreibt in sein Tagebuch: „Siegfried ist im Zirkus gewesen. Die Karte kostete 10 Mio. Mark. Diese hat ihm ein Mitschüler geschenkt. Man denke: Kinder schenken sich 10 Millionen. Der Dollar soll auf drei Milliarden stehen. Das wird wohl der Tod des Ministeriums Stresemann sein.“

11.10.1923

Die Reichsbank beschäftigt inzwischen 30 Papiermühlen, 130 Druckereien und 7500 Arbeiter, die damit beschäftigt sind, ständig neues Geld zu drucken. Das Geld wird in Schubkarren transportiert und mit den alten Banknoten, die nichts mehr wert sind, spielen die Kinder.

12.10.1923

In Berlin stirbt der Arzt und Hygieniker Carl Flügge. Er hatte das erste Institut für Hygiene an einer deutschen Hochschule geleitet und die Theorie der Tröpfcheninfektion, der Übertragung von Krankheiten über die Atemwege, entwickelt.

13.10.1923

Der Reichstag beschließt mit Zweidrittelmehrheit ein Ermächtigungsgesetz. Nun haben es Friedrich Ebert und Gustav Stresemann in der Hand, die Republik durch die Krise zu führen. Sie können einschneidende wirtschaftliche, soziale und finanzpolitische Entscheidungen treffen.

14.10.1923

Der Staat muss sparen und im öffentlichen Dienst sollen Stellen abgebaut werden. Vor allem auf die Frauen hat es das Finanzministerium abgesehen. Dort rechnet man vor: Verheiratete Beamtinnen hätten an 172 Tagen im Jahr im Dienst gefehlt und seien damit doppelt so teuer wie Männer. Sobald eine ledige Beamtin heiratet oder schwanger wird, kann sie fristlos entlassen werden. So sind die neuen Regeln.

15.10.1923

Die Deutsche Rentenbank wird gegründet. Ein Stoppen der Hyperinflation scheint kaum möglich. Mit einer neuen Währung, der Rentenmark, soll das Vertrauen in die Wirtschaft wieder hergestellt werden. Die Bank erhält ein Grundkapital von 3,2 Milliarden Rentenmark. Es beginnen die Vorbereitungen zur Ausgabe des neuen Geldes.

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/inflation-1923.html

16.10.1923

Wie am 10. Oktober in Sachsen bilden nun auch in Thüringen Kommunisten und Sozialdemokraten eine Koalitionsregierung unter August Fröhlich (SPD). Das Justiz- und das Wirtschaftsministerium gehen an die KPD. Als Argument dient die Grenze zu Bayern und die politische Entwicklung dort.

17.10.1923

In Berlin werden inzwischen täglich 20.000 warme Mahlzeiten in den Mittagsstunden durch die städtische Volksspeisung ausgegeben, um die Not der Bevölkerung zu lindern. Künftig soll auch in den Schulen Essen verteilt werden.

18.10.1923

Die Bergedorfer Zeitung berichtet heute von den Vorgängen in München. Dort treiben die Rechten den Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr vor sich her. Sie werfen ihm Untätigkeit vor. Die Zeitung schreibt: „Der aus der Haft entlassene Roßbach wird am Freitag im Löwenbräu mit einer Rede vor seine Anhänger treten; auch Hitler wird sprechen.“

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper/item/NZ5GM735DLHE3AKF6BUKOIDZP5H2MFVB?query=18.10.1923&hit=10&issuepage=2

19.10.1923

Die Zeitschrift Box-Sport berichtet erstmals über das Nachwuchstalent Max Schmeling. Dass sein Name auf Seite 8 dabei falsch geschrieben wird, kann er verschmerzen. Zwar verliert er nach Punkten gegen den amtierenden deutschen Meister im Halbschwergewicht, doch im kommenden Jahr wird er nun selbst bei den Deutschen Meisterschaften starten dürfen. Ist das der Durchbruch auf dem Weg zum Profi?

20.10.1923

In Bayern gießt man weiter Öl ins Feuer. Der stellvertretende Generalstaatskommissar Hubert Friedrich Karl Freiherr von und zu Aufseß hetzt gegen die Reichsregierung vor Münchner Studenten: „Es heißt für uns nicht: Los von Berlin! Wir sind keine Separatisten. Es heißt für uns: Auf nach Berlin! Wir sind von Berlin in einer unerhörten Weise belogen worden. Das ist auch nicht anders zu erwarten von dieser Judenregierung, anderen Spitze ein Matratzeningenieur steht.“

21.10.1923

Die Einheit der Republik ist nun auch von anderer Seite gefährdet. Separatisten rufen in Aachen eine unabhängige „Rheinische Republik“ aus. Erneut finden sie französische Unterstützung. Diese endet erst, als die Briten unmissverständlich klar machen, dass sie auf die Einheit Deutschlands beharren. Als die französische Unterstützung endet brechen auch die separatistischen Bewegungen, die kaum Rückhalt in der Bevölkerung haben, zusammen.

22.10.1923

In Berlin wird von Reichspräsident Friedrich Ebert die Reichsexekution Sachsens beschlossen. Die Reichswehr rückt in Sachsen ein, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Rudolf Heinze (DVP) wird eine Woche später zum Reichskommissar für Sachsen ernannt.

23.10.1923

Auch in Hamburg gibt es kommunistische Unruhen. Der „Deutsche Oktober“ soll die Weltrevolution nach Deutschland tragen. Die Reichsregierung hat nicht genug Kräfte, um überall Recht und Ordnung durchzusetzen. Als Ebert den Chef der Reichswehr, Hans von Seeckt, fragt, auf welcher Seite die Reichswehr stehe, da antwortet dieser angeblich: „Die Reichswehr steht hinter mir.“  Dennoch vertraut Ebert weiter der Reichswehrführung.

In Berlin findet währenddessen ein Kinderfest im Zoo statt. Kinder dürfen die Tiere aus nächster Nähe betrachten und sogar auf einem Kamel raten.

24.10.1923

Die Karlsruher Zeitung berichtet aus Bayern. Dort erklärt der vom Chef der Heeresleitung abgesetzte General Otto von Lossow: „Niemand übertrifft uns Bayern an Reichstreue. Was wir wollen, ist, dass dem bayerischen Generalstaatskommissar von der unter marxistischem Einfluss stehenden Berliner Regierung nichts aufgezwungen werden soll.“ Er kündigt an, die geplante Verpflichtung der bayerischen Reichswehr auf Bayern durchzuführen. Die Zeitung kommentiert: „Im Leben ist man niemals vor wortbrüchigen Gesellen geschützt und stets kann man sich in Menschen täuschen. Aber mit dem Hochverräter v. Lossow ist dem Wehrministerium doch ein besonderes Malheur passiert.“

Hier kann man weitere Tageszeitung nachlesen: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

25.10.1923

Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote schreibt: „Parteigenossen! Der Vorstand der sozialdemokratischen Partei warnt alle Genossen und alle Proletarier vor den kommunistischen Parolen. Jeder Sozialdemokrat, jeder Republikaner stehe jetzt der Partei und der Republik mit ganzer Kraft zur Verfügung! Nur den Anweisungen der Partei ist Folge zu leisten. Es steht alles auf dem Spiel!“

26.10.1923

Ernst Jünger immatrikuliert sich an der Universität Leipzig und studiert nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr dort Zoologie und Philosophie. Nach dem Erfolg von „In Stahlgewittern“ und „Der Kampf als inneres Erlebnis“ schreibt Jünger weiter. 1923 erscheint mit „Sturm“ eine neue Kriegserzählung von ihm als Fortsetzungsgeschichte im Hannoverschen Kurier.

27.10.1923

Richard Gräf, Wilhelm Erdner, Hermann Wolf und der 13 Jahre alte Schüler Heinz Brinkmann erhoffen sich Hilfe und Unterstützung, als sie auf Fritz Haarmann treffen. Sie bezahlen ihr Vertrauen mit dem Leben. Mindestens viermal mordet Haarmann im Oktober. Weitere sieben Menschen hat er da bereits in diesem Jahr getötet. Zwei weitere Männer werden bis zum Jahreswechsel noch folgen.

28.10.1923

Nach dem Ende des Ruhrkampfes notiert Sebastian Haffner: „Nie hatte es so viel Gerüchte gegeben: Das Rheinland war abtrünnig geworden, Bayern war abtrünnig geworden, der Kaiser war zurückgekehrt, die Franzosen waren einmarschiert, Gerüchte einer schwarzen Reichswehr sickerten durch und man hörte eine Menge über den Tag.“

29.10.1923

„Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin Vox-Haus.!“ So beginnt die erste ausgestrahlte Rundfunksendung im deutschen Radio. Mit Scheuertüchern und Pferdedecken hat man im Studio erst einmal für die richtige Akkustik gesorgt. Als erster offizieller Rundfunkteilnehmer geht der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff in die Geschichte ein.

https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/erste-rundfunksendung-deutschland-hans-bredow-100.html

30.10.1923

Hindenburg ist ungehalten und leidet wie die meisten Pensionäre im Reich unter der Hyperinflation. Eben hat er seiner Tochter Irmengard geschrieben, dass mit diesem Brief „alle sonstigen Segenswünsche für die nächsten Monate, als da ist Weihnachten, Neujahr und der Geburtstag Deines Jüngsten“ abgegolten sind. Er hat kein Geld mehr für Briefmarken.

31.10.1923

Aufrufe der Kommunisten in Sachsen zu einem Generalstreik finden keinen Widerhall. Mit Karl Fellisch wählt der Landtag einen Sozialdemokraten zum neuen Ministerpräsidenten im Freistaat Sachsen, und die Lage beruhigt sich zunehmend.

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