#krisenjahr1923 im Überblick

1.1.1923

Der Lehrer und Kantor August Heinrich von der Ohe aus dem beschaulichen Bergedorf bei Hamburg notiert in sein Tagebuch: „Heute beginnt das Jahr 1923: Was wird dieses Jahr uns noch alles bringen?“ Eine gute Frage.

August Heinrich von der Ohe wird uns in diesem Jahr immer wieder begegnen. Wer mehr über ihn und sein Tagebuch wissen will, der findet es hier: https://www.kollektives-gedaechtnis.de/id-1918-bis-1933/articles/auszuege-aus-einem-tagebuch-aus-den-jahren-1922-1923.html

2.1.1923

Die Frankfurter Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen eröffnet in der Stadthalle der Mainmetropole eine weitere Volksküche, in der an Bedürftige eine warme Mahlzeit ausgegeben wird. Nicht nur hier ist die Not groß.

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/hunger-und-elend.html

3.1.1923

Der Lübecker Volksbote meldet: „Ein Bahndamm von der Insel Sylt nach dem Festlande wird jetzt zur Ausführung kommen. Auf die Dauer ist der unzulängliche Dampferverkehr eine Unmöglichkeit, da die Schiffe im Wattenmeere oft festfahren und wiederholt mit allen Passagieren tagelang Sturm und Unwetter ausgesetzt waren. Die Fertigstellung des Dammes wird je nach der Witterung zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-002.pdf

https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Hindenburgdamm-Mit-der-Bahn-durchs-Watt-nach-Sylt,hindenburgdamm138.html

4.1.1923

„Der Mensch hat den Wald betreten.“ Und am Ende ist Bambis Mutter tot. Das Buch von Felix Salten „Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ erscheint 1923. In dem Roman, der ein großer Erfolg werden wird, sehen manche eine Parabel auf das Massensterben des Krieges, andere gar eine versteckte Erotikgeschichte oder die Verurteilung der Technikgläubigkeit des Menschen. Der Autor selbst sagt: „Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies.“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/im-schatten-von-bambi-felix-salten-eine-schillernde-100.html

https://www.deutschlandfunkkultur.de/bambi-ist-nicht-suess-und-auch-nicht-niedlich-100.html

5.1.1923

Das Reichsgesetzblatt verkündet eine bereits im Dezember vom Reichstag beschlossene „inflationsbedingte Erhöhung der Grundgehälter, Diäten, Ortszuschläge und Kinderzuschläge von 49%“ im öffentlichen Dienst.

6.1.1923

Im Erfurter Stadttheater wird die Tragikomödie über den Hochstapler Cagliostro von Heinrich Lilienfeld uraufgeführt. Tolstoi hat sich bereits 1921 mit dem historischen Stoff befasst. Ebenso Alexandre Dumas. Die Kritiker sind wohlmeinend. Das Theaterstück wird ein Erfolg.

7.1.1923

Im Ronhof deklassieren die Fußballer der SpVgg Fürth den Hamburger SV mit 10:0. „Es ist traurig, und wir müssen unsere Leser bitten, nicht an einen Druckfehler zu glauben“, schreibt eine Hamburger Zeitung über das Ergebnis des Freundschaftsspiels.

8.1.1923

Die Abend-Ausgabe des Berliner Tageblatts berichtet: „Nach den weiblichen Schöffen haben jetzt auch weibliche Geschworene ihren Einzug in die Gerichte gehalten. Bei den heute an sämtlichen drei Landgerichten in Moabit einsetzenden Schwurgerichtsperioden waren Frauen auf der Geschworenenliste. Die Vorsitzenden würdigten den Einzug der Frauen als Geschworene durch besondere Ansprachen.“

https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

9.1.1923

Weil es eine wirkliche Sensation ist, widmet der Der @kicker in der zweiten Ausgabe in Folge dem Länderspiel Deutschland gegen Italien erneut eine Titelgeschichte. Zwar verlieren die Deutschen in Mailand, aber der Bann ist gebrochen. Erstmals seit Kriegsende spielt man nicht nur gegen ehemalige Verbündete wie Österreich oder Ungarn sowie die Schweiz und Finnland. Es folgen Spiele gegen die Niederlande und Norwegen. Die deutsche Fußballelf ist zurück auf dem internationalen Parkett.

https://emagazine.kicker.de/en/profiles/6925623b4e1b/editions/234ba43d314b91f69be4

10.1.1923

Litauische Freischärler besetzen das unter französischer Verwaltung stehende deutsche Memelland nördlich von Ostpreußen.Die Nachricht droht fast unterzugehen, denn am kommenden Tag werden französische und belgische Soldaten ins Ruhrgebiet einmarschieren. Die Republik kann und will die hohen Reparationszahlungen nicht länger aufbringen.

11.1.1923

Der Besetzung des Ruhrgebiets will die Reichsregierung etwas entgegensetzen. Die Arbeiter treten in den Streik, die öffentliche Verwaltung verweigert sich der Besatzungsmacht. All das verursacht Kosten, die die wirtschaftliche schwierige Lage weiter anheizen. Doch die politische Glaubwürdigkeit der Republik steht auf dem Spiel. Der Ruhrkampf soll auch ein Signal an die inneren Feinde sein, nicht nur an die Franzosen. Die Republik wehrt sich.

12.1.1923

Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter tritt in Kraft. Dort heißt es in Paragraf 1: „Jeder Arbeitgeber, der einen Arbeitsplatz besetzen will, ist verpflichtet, einen Schwerbeschädigten, der für diesen Arbeitsplatz geeignet ist, anderen Bewerbern nach Maßgabe der folgenden Vorschriften vorzuziehen.“

13.1.1923

Sebastian Haffner erinnert sich an den beginnenden Ruhrkampf. „Die Regierung rief zum passiven Widerstand auf, und bei der deutschen Bevölkerung überwand das Gefühl nationaler Erniedrigung und Gefahr – wahrscheinlich echter und ernster als 1914 – die angehäuften Bürden der Müdigkeit und Enttäuschung.“

https://www.deutschlandfunk.de/sebastian-haffner-geschichte-eines-deutschen-die-100.html

14.1.1923

Der heutige Tag ist zum „nationalen Trauertag“ erklärt worden. Überall in der Republik demonstrieren die Menschen friedlich auf zahllosen Kundgebungen gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen.

15.1.1923

Der Journalist Erich Dombrowski berichtet von den Übergriffen der französischen Soldaten im Ruhrgebiet. In Bochum stirbt ein Jugendlicher durch eine französische Kugel. Der erste Tote, dem viele weitere folgen werden. Es kommt zu Vergewaltigungen, Szenen der Gewalt und Schikanen der Bevölkerung. Das heizt die Proteststimmung weiter an.

16.1.1923

Die Karlsruher Zeitung berichtet: „Nach allen Anzeichen treibt die Entwicklung im nationalsozialistischen Lager in Südbayern, vor allem in München, einer Krise entgegen. Die durch eine maßlose Agitation aufgepeitschten Anhänger dieser rechtsradikalen Bewegung drohen der Leitung ihrer Führer zu entgleiten, wenn nicht die bis zur Siedehitze gesteigerten Leidenschaften eine Entladung finden. Dazu kommt, dass der Ruf nach Diktatur immer offener und lauter erhoben wird.“

17.1.1923

Die Berliner Stadtverordnetenversammlung beschließt aufgrund der Energieknappheit, dass die Leuchtreklame in der Stadt abgeschaltet werden soll.

18.1.1923

In der festlich geschmückten Aula der Frankfurter Universität findet eine Reichsgründungsfeier statt. Man gedenkt der Gründung des Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles, nicht der Gründung der Republik. Es wird eine Entschließung angenommen, die sich gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets wendet. Professor Richard Lorenz hält die Festrede über „Die Geschichte einer naturwissenschaftlichen Hypothese“.

19.1.1923

Die französischen Soldaten verlassen das Memelland unverrichteter Dinge. Man munkelt, die Reichsregierung sei mit der Besetzung einverstanden. Zumindest die Waffen der litauischen Freischärler sind aus deutscher Produktion. Die Polen haben Ansprüche auf das deutsche Memelland angemeldet. Ein neuer Konfliktherd in Osteuropa.

20.1.1923

Emil Julius Gumbel wird an der berühmten Heidelberger Universität habilitiert. Er war 1914 Kriegsfreiwilliger und engagiert sich inzwischen in der Deutschen Liga für Menschenrechte als überzeugter Pazifist. Als Statistiker weist er nach, dass mehr als 350 rechtsextremen Morden rund 20 von linksextremer Seite gegenüberstehen. Und die Justiz ist auf dem rechten Auge blind.

https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/24243/1/gumbel.pdf

https://www.deutschlandfunk.de/moerderische-statistik-gewalt-von-rechts-100.html

21.1.1923

Erich Mühsam, der anarchistische Schriftsteller, ätzt in sein Tagebuch: „Aber während in allen Meinungskloaken im politischen Hauptpissoir das Volk in seiner Eintracht gepriesen wird, stinkt hinten der Öffnungskübel die widerlichsten Dünste der Parteibesudelung aus. Nationalisten, Demokraten, Sozialdemokraten – alles giftet einander Ekel und Pest an; einer wirft dem anderen »Landesverrat« vor, einer macht den anderen für Jammer und Unglück verantwortlich. Die bayerischen Hakenkreuzdesperados aber wittern Morgenluft. Die gehen wenigstens deutlich und offen heraus mit der Sprache.“ 

22.1.1923

Der alte Moltke dreht sich im Grabe rum. Diesmal allerdings, wie die Presse meldet, wegen Grabräubern. Degen und Helm des „verewigten Generalfeldmarschalls“ wurden zerbrochen, Silberkränze und Kruzifixe bereits vorher gestohlen. Diesmal klauen Diebe sogar die Sargschrauben.

23.1.1923

Die Inflation führt dazu, dass viele Geschäfte sich streuben, ihre Waren offen anzubieten. Immer öfters kommt es zu Wucherpreisen. Die Regierung und die Justiz gehen zunehmend gegen den Wucher vor, die Ursachen der Inflation bekämpfen sie jedoch nicht.

24.1.1923

Kurt Tucholsky plagen Geldsorgen. In einem Brief berichtet er davon, dass er Teile seiner Bibliothek bei einem Antiquar in Kommission gegeben hat. Schließlich nimmt der das Zeitgeschehen mit später Feder porträtierende Dichter und Autor einen ganz profanen Job in einer Bank an, um über die Runden zu kommen. Ein befreundeter Bankier hat ihm die Arbeitsstelle verschafft.

25.1.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet: „Die Angestellten und Arbeiter der Vereinigten Stempelfabriken J. Bergeon und J. Kreuter haben 2 % ihres Monatsgehalts bezw. Wochenlohns für die notleidende Ruhrbevölkerung gespendet.“

26.1.1923

In Duisburg und Trier werden Demonstranten, die gegen die Verhaftung von Beamten protestieren, von belgischen und französischen Soldaten attackiert. Es kommt zu Toten und Verletzten. Das heizt den Hass auf die Besatzungstruppen weiter an.

27.1.1923

Die deutsche Regierung fühlt sich bestätigt: englische Juristen halten die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich für eine Verletzung des Friedensvertrags von Versailles.

28.1.1923

Im verschneiten München findet der erste Parteitag der NSDAP inklusive Fahnenweihe statt. Hitler spricht auf 14 Veranstaltungen, alle Auflagen und Verbote ignorierend. Volle Säle, Begeisterung und Hass auf die Republik, die „Novemberbrecher“ und die Juden. Am Ende marschieren die „Hitlerleute“ durch München. Eine Demonstration der Macht.

29.1.1923

Die Franzosen verhängen den Belagerungszustand. Wer streikt oder die Befehle der Besatzungstruppen nicht befolgt, dem drohen Verhaftung, Geldbußen, Gefängnis oder gar die Ausweisung aus den besetzten Gebieten.

30.1.1923

Heute wird in Berlin die U-Bahn eingeweiht. Zwischen Hallesches Tor und Stettiner Bahnhof können die Berlinerinnen und Berliner nun unterirdisch unterwegs sein. Der Krieg hatte die für 1917 geplante Fertigstellung des 1912 begonnenen Baus verhindert.

31.1.1923

Vier deutsche Polizisten werden in Aachen von einem belgischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Das Urteil führt zu Protesten und Unruhen in der deutschen Bevölkerung. Per Ministerial-Erlass wird festgelegt, dass die Polizeibeamten französische und belgische Offiziere so wie die Fahnen der Besatzungsmächte nicht grüßen dürfen.

1.2.1923

Der sozialdemokratische Vorwärts meldet: „Im Berliner Auswärtigen Amt wurden gestern Mittwoch die ratifizierten Rapallo-Urkunden ausgetauscht.“ Das Deutsche Reich will mit dem bereits 1922 geschlossenen deutsch-russischen Abkommen unabhängig von britischen und amerikanischen Öllieferungen werden.

2.2.1923

Die Berliner Polizei muss in der vergangenen Nacht insgesamt acht tödliche Gasvergiftungen aufnehmen. Als Grund für die Selbstmorde wird die Angst vor dem Hunger angegeben. Die Not ist groß.

3.2.1923

In Frankfurt wird das Institut für Sozialforschung dank einer großzügigen Spende des Kaufmanns und Mäzens Hermann Weil und seines Sohnes Felix gegründet. Der Gesellschaft „den Spiegel ihrer uneingelösten Möglichkeiten“ vorhalten, das will das Institut.

August Heinrich von Ohe hat derweil andere Sorgen. Er vertraut seinem Tagebuch an: „Ich war mehrfach in Geldnöten, habe mich aber glücklich herausgewunden. Neu gekauft: 1 Wagen 125.000 Mark, ein Rind 215.000 Mark, eine Kuh 400.000 Mark und drei Ferkel 90.000 Mark. Dafür habe ich 425.000 Mark aufgenommen; aus dem Gehalt kamen 440.000 Mark dazu.“

https://www.ifs.uni-frankfurt.de/

4.2.1923

Die Sonntagsausgabe des sozialdemokratischen Vorwärts berichtet: „Keine Pfannkuchen mehr! Die durch die Ruhrbesetzung aufs äußerte erschöpfte Wirtschaftslage des deutschen Volkes lässt eine Einschränkung in der Herstellung und dem Verbrauch aller mit Fett und Eiern versetzten feineren Backwaren geboten erscheinen. Deshalb hat der Vorstand der Konditoreninnung zu Berlin sich der freiwilligen Selbstbeschränkung angeschlossen. Die Konditoreninnung wird gegen die Kollegen, die sich dieser Selbstbeschränkung nicht unterwerfen, mit sehr strengen Strafen vorgehen.“

Hier kann einen Blick in viele der an diesem Tag erschienen Zeitungen werfen: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=4.2.1923

5.2.1923

Die Gewalt im Ruhrgebiet eskaliert zunehmend. Das 14jährige Mädchen Anna Schiffer stirbt an einem Bauchschuss. Sie hatte einfach tanzende französische Soldaten beobachtet, als einer auf sie zielt und abdrückt. Ihre Familie erhält 150 Mark als Entschädigung von den Besatzungsbehörden. Der sozialdemokratische Vorwärts dokumentiert viele dieser Fälle.

6.2.1923

Durch eine Fusion der Deutschen Luft-Reederei und der Lloyd Luftdienst GmbH zur Deutschen Aero Lloyd entsteht eine neue Luftverkehrsgesellschaft. Einen stilisierten Kranich als Symbol führt das Unternehmen fort.

7.2.1923

Als französische Soldaten in Recklinghausen randalieren, kommt es zu Ausschreitungen. Die deutschen Zeitungen berichten in diesen Tagen immer wieder von Vergewaltigungen und Schikanen der Zivilbevölkerung. Es bleibt nicht beim passiven Widerstand. Die Attacken auf französische und belgische Soldaten nehmen ebenfalls zu.

8.2.1923

Unter der Leitung von Dietrich Eckart, Mentor und Freund Adolf Hitlers, wird der „Völkische Beobachter“, die Parteizeitung der NSDAP, künftig als Tageszeitung erscheinen. Die Auflage beträgt 8.000 Exemplare. Die Hetze gegen Juden, Kommunisten und die Republik fällt auf fruchtbaren Boden.

https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/V%C3%B6lkischer_Beobachter

9.2.1923

Käthe Kollwitz schreibt diesen Monat in ihr Tagebuch: „Die schwere Depression weicht nach und nach, ich bin dankbar mich künstlerisch wieder lebendig zu fühlen.“

10.2.1923

In München stirbt Wilhelm Conrad Röntgen. Der Nobelpreisträger für Physik hatte mit seiner Forschung und Entdeckung der Radioaktivität die medizinische Diagnostik revolutioniert. Noch bis kurz vor seinem Tod ging er jagen und unternahm lange Wanderungen. Und der Ehrenbürger von Würzburg klagte darüber, dass er den dort erfahrenen intellektuellen Austausch in München schmerzlich vermisse.

https://www.uni-wuerzburg.de/uniarchiv/persoenlichkeiten/bedeutende-gelehrte/wilhelm-conrad-roentgen/

https://www.dhm.de/lemo/biografie/wilhelm-roentgen

11.2.1923

Nach gut einem Monat ist die Ruhrbesetzung Alltag geworden. Sebastian Haffner notiert: „Überall intonierten tagelang Menschenmengen den Rütli-Schwur aus Wilhelm Tell. Allmählich bekam die Geste etwas Lächerliches, Schamhaftes, weil sie in einer Leere zur Schau gestellt wurde.“ An der Ruhr wird weiter bezahlt gestreikt und schon bald beginnt die Inflation zu steigen.

 12.2.1923

In Hannover verschwindet der 17jährige Fritz Franke. Er war zunächst bei einem Mann namens Fritz Haarmann in der Hannover Altstadt untergekommen und dann angeblich nach Hamburg abgereist. Als zwei Prostituierte die Kleidung des Jungen sowie einen Eimer mit Fleischstücken in der Wohnung Haarmanns finden und zur Polizei gehen, bleibt das folgenlos. Die Polizei meint, das Fleisch sei Schweineschwarte.

13.2.1923

Belgische Truppen besetzen Emmerich und Wesel, französische Soldaten marschieren in Gelsenkirchen ein. Im Ruhrgebiet weigern sich die Hotelbesitzer und Kaufleute, Angehörige der Besatzungsmächte zu bedienen oder ihnen etwas zu verkaufen. Anstatt zu bezahlen, kommt es deshalb zu Plünderungen.

14.2.1923

Aschermittwoch. Doch den Narren war sowieso dieses Jahr nicht nach Feiern zumute. In Köln fällt der berühmte Rosenmontagszug aus. Die Roten Funken in Köln wollten eigentlich ihren 100. Geburtstag feiern. Die Jecken schleudern der Zeit ein trotziges „Was interessiert den kölschen Funken schon das lächerliche Welttheater!“ entgegen. Doch auch in Mainz und Düsseldorf gibt es dieses Jahr keine Kamelle. Das Uniformverbot der französischen Besatzer gilt auch für Karnevalsuniformen.

15.2.1923

Die Annexion des Memellandes durch Litauen wird von der Botschafterkonferenz zwar anerkannt, doch 95 Prozent der Bevölkerung sind Deutsche und fühlen sich auch so. Sie wollen über kurz oder lang wieder einen Anschluss an das Deutsche Reich.

16.2.1923

Der Reichstag beschließt ein Jugendgerichtsgesetz. Erstmals wird der Begriff des Jugendlichen definiert. In § 2 heißt es außerdem: „Wer eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, ehe er vierzehn Jahre alt geworden ist, ist nicht strafbar.“

https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/1602-jugendgerichtsgesetz-jugendstrafrecht-jugendkriminalitaet100.html

17.2.1923

Ein Kriegsgericht verurteilt den Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres zu einem Monat Gefängnis, weil er sich geweigert hatte, seiner Ausweisung aus dem Ruhrgebiet Folge zu leisten. Er trägt die Kosten des Verfahrens.

18.2.1923

Auch in Düsseldorf greifen die Franzosen mit harter Hand durch. Regierungspräsident Walther Grützner und drei Telegraphensekretäre werden verhaftet und ausgewiesen.

19.2.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt berichtet von einer örtlichen Parteiversammlung der Deutschnationalen Volkspartei. „Gerade jetzt“, so der Redner, müsse das deutsche Volk „Kraft und Mut nehmen aus den Leistungen, die es in dem gewaltigen, hinter uns liegenden Ringen vollbracht“ hat. „Trotz des Dunkels der Gegenwart, trotz aller Not“ sei den Deutschen „eine große Zukunft beschieden, „eine Zukunft in Freiheit, wenn wir nur wollen.“

20.2.1923

In Koblenz wollen französische Gendarmen sich im Hauptzollamt bedienen und verlangen den Kassenschlüssel. Doch der Zollrat Wanderscheidt wirft 5 Millionen Mark einfach aus dem Fenster und schließt den Kassenschrank. Da nehmen die Franzosen statt Geld ihn mit.

21.2.1923

In Berlin muss die Polizei einschreiten. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Kommunisten haben eine Versammlung der Deutschvölkischen Freiheitspartei gestört. Nachdem die NSDAP in Preußen verboten ist, sammeln sich ihre Anhänger in dieser Partei. 

22.2.1923

In Herne will die französische Besatzungsmacht die Bevölkerung zur Zusammenarbeit aufrufen. Dazu sollen in den Geschäften Plakate aufgehängt werden. Infolgedessen sind alle Geschäfte geschlossen. Die Ladenbesitzer gönnen sich einen Tag Pause.

23.2.1923

Auch in der Krise gibt es Gewinner. Doch da Wucherpreise und Schwarzhandel inzwischen Ausmaße angenommen haben, die für erheblichen Unmut in der Bevölkerung sorgen, beschließt der Reichstag ein „Notgesetz“. So soll auch gewährleistet werden, dass die eingeführten Preisdeckel eingehalten werden.

24.2.1923

Käthe Kollwitz hat schlimme Schmerzen im Oberbauch, Koliken plagen sie. Ihr Mann, der Arzt ist, macht sich große Sorgen. Noch in der Nacht bring er sie ins Krankenhaus. Gallensteine! Adolf Brentano, ein Facharzt auf diesem Gebiet, rät zu einer sofortigen Operation und wird Käthe Kollwitz so das Leben retten. Am folgenden Tag wird sie operiert.

25.2.1923

Im hessischen Friedberg nimmt die Polizei zwei Räuber fest. In dem kleinen Ort Dorn-Assenheim hatten sie die Kirche „vollständig ausgeräubert.“ Wertvolle Gegenstände hatten sie mitgehen lassen. „An Einbrecherwerkzeugen fand man 11 Dietriche und 6 Nachschlüssel. Zu ihrer Verteidigung trugen sie Schlagringe.“

26.2.1923

Otto Pohle inseriert im Gelnhäuser Tageblatt: „Dem Dollar entsprechend sind meine Preise ab heute“ 15.000 Mark für ein Oberhemd mit Kragen und 2.500 Mark für eine Konfirmanden-Hut. Die Inflation lässt die Preise spürbar steigen.

27.2.1923

Die deutschen Schutzpolizisten im Ruhrgebiet haben sich geweigert, die Offiziere der Besatzungstruppen militärisch zu grüßen. Der französische General Jean Marie Degoutte löst die preußische Schutzpolizei in den besetzen Gebieten erst auf und ordnet dann die Ausweisung der Polizisten an.

28.2.1923

Der Badischen Beobachter, ein Presseorgan des Zentrums, wirbt für eine Veranstaltung mit Helene Weber, der ersten weiblichen Ministerialrätin Preußens. Auf der „Großen Frauenkundgebung“ spricht  sie über „Reinheit und Sitte in Familie und Volk“. Daneben wirbt der Verlag: „Versage Dir täglich eine Zigarre und gib ihren Wert zum Deutschen Volksopfer“.

Nachzulesen hier: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper

1.3.1923

Freie Fahrt für freie Reichsbürger. Im Deutschen Reich gilt ein neues Tempolimit. Künftig darf man innerorts 30 km/h statt den bisher erlaubten 15 km/h schnell fahren.

2.3.1923

„Gehn wie ein Ägypter!“ Die beliebte Berliner Illustrirte Zeitung, eine Wochenzeitschrift, stellt “Tutanchamun-Tänze” vor, die der anhaltenden Begeisterung über die Entdeckung des Pharaonengrabes in Ägypten im November 1922 Ausdruck verleihen. Der Wunsch nach Ablenkung bei den Menschen ist gerade angesichts der vielen schlimmen Nachrichten groß.

3.3.1923

Das erste Mal erscheint das US-Nachrichtenmagazin TIME. Im Heft geht es um den ersten Hubschrauber, eine mögliche Änderung des Scheidungsrechts und die Reparationszahlungen, die Deutschland zu leisten hat. Auf dem Cover ist der konservative Politiker Joseph Gurney Cannon, der am selben Tag den Vorsitz im Repräsentantenhaus verliert, dem er mit kurzer Unterbrechung seit 1873 angehört hatte. Er kandidiert diesmal nicht wieder.

4.3.1923

In die deutsche Botschaft in Rom wird in der Nacht eingebrochen. Ein deutscher Attaché wird im Kampf mit den Einbrechern verletzt. Die deutsche Seite bemängelt daraufhin den schlechten Schutz der Botschaft durch die italienischen Behörden.

5.3.1923

Verhaftete Beamte der Reichsbahn müssen als Geiseln auf den Lokomotiven der Kohlenzüge mitfahren, da die französische Besatzungsmacht sich vor Anschlägen fürchtet.

6.3.1923                

Der passive Widerstand gegen die Ruhrbesetzung zeigt Wirkung. Statt der 2,1 Millionen Tonnen Kohle werden nur 74.000 Tonnen, keine 4 Prozent der vorgesehenen Menge, nach Frankreich geliefert. Arbeitsverweigerung und Sabotage sind die Ursache.

7.3.1923

Reichspräsident Friedrich Ebert besucht die traditionsreiche Leipziger Messe. Der Reichspräsident fliegt die Strecke von Berlin nach Leipzig mit einem neuen Flugzeug der Firma Junkers.

8.3.1923

Die Stadtverordneten in Berlin diskutieren, ob man Straßen und Plätze nach den Opfern politischer Morde benennen soll. Für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stimmen nur die Kommunisten. Aber selbst die Forderung, Straßen nach Matthias Erzberger und Walther Rathenau zu benennen, werden, wie der „Vorwärts“ berichtet, „von allen Bürgerlichen abgelehnt“. Am Ende einigt man sich darauf, falls einmal eine Straße neu zu benennen sei, diese Rathenau zu widmen. Erzberger geht leer aus. Ein Armutszeugnis für die Demokraten in der Berliner Stadtverordnetenversammlung.

9.3.1923

Für die Nationalsozialisten sind nicht die Franzosen Schuld am Leid und der Not der Bevölkerung im Ruhrgebiet. Schuld sind die Novemberverbrecher und die Juden. Hermann Esser, einer der Getreuen Hitlers, fordert in einer Rede, die Juden als Geiseln einzusetzen und im Zweifel hinzurichten. Die Menge applaudiert frenetisch.

10.3.1923

Alfred Rosenberg, einer der Vordenker der NSDAP, wird „Hauptschriftleiter“, also Chefredakteur des „Völkischen Beobachter“, der Zeitung der Nazis, die nun als Tageszeitung erscheint und die Hetzreden ihres Vorsitzenden Adolf Hitlers verbreitet. Die Auflage steigt.

11.3.1923

Zwei französische Offiziere sind ermordet worden. In Gelsenkirchen wir der Ausnahmezustand verhängt und die Bevölkerung leidet unter Misshandlungen der Besatzungssoldaten. Dann stellt sich heraus, dass französische Soldaten die Offiziere getötet hatten.

12.3.1923

Margarete von Wrangell schreibt an ihre Mutter: „Ich bin der erste ordentliche weibliche Professor in Deutschland. Bin zudem durch einige wissenschaftliche Größen öffentlich anerkannt worden. Das hat mir die Feindschaft vieler eingetragen; aber mein Institut ist eine Schöpfung, die von dauerndem Wert und Nutzen bleiben wird. Jedenfalls weiß ich, wofür ich kämpfe.“ Sie erhält den Lehrstuhl für Pflanzenernährung an der Universität Hohenheim bei Stuttgart und ist in der Tat die erste Professorin an einer deutschen Hochschule.

https://www.tagesspiegel.de/wissen/experimente-von-nationalem-interesse-4966882.html

13.3.1923

Ludendorff ist empört. Angesichts des Gerüchts, er habe sich den Franzosen angedient und sei in einem Waffenschmuggel nach Ungarn involviert, veröffentlicht er eine Erklärung, er habe mit der ganzen Sache nichts zu tun.

14.3.1923

Der Staatsgerichtshof in Leipzig bestätigt das in vielen Ländern erlassene Verbot und die angeordnete Auflösung der NSDAP, die als verfassungsfeindlich gilt. Nur die bayerische Regierung lehnt ein Verbot der Partei Hitlers kategorisch ab.

15.3.1923

Als der Lyriker Stefan George in Heidelberg eintrifft, spricht sich nicht nur seine Ankunft wie ein Lauffeuer herum. Er wohnt nicht mehr am Schlossberg, sondern nimmt am Wolfsbrunnenweg 12 bei Ernst Kantorowicz Quartier. Beide kennen sich seit 1920. Kantorowicz lernt auch andere aus dem George-Kreis wie die drei Brüder Stauffenberg kennen. Als der Meister wieder fährt ist die Entscheidung gefallen: Obwohl er sich bisher kaum mit mittelalterlicher Geschichte befasst hat, wird Kantorowicz eine Biographie über den großen Stauferkaiser Friedrich II. schreiben. Das Buch wird für Furore sorgen und den Autor auf einen Schlag berühmt.

16.3.1923

Die französischen Besatzungsbehörden üben eine scharfe Zensur aus. Seit Besetzung des Ruhrgebiets wurden 445 Zeitungen verboten. Das Erscheinungsverbot erstreckte sich von drei Tagen bis hin zu drei Monaten.

17.3.1923

Der deutsche Industrielle Hugo Stinnes, der im Hintergrund auch in der Politik die Fäden zieht, findet sich heute auf der erst seit kurzem erscheinenden Titel des amerikanischen Nachrichtenmagazins @TIME Magazin wieder. Die Story ist wenig schmeichelhaft und kommt zur Unzeit für Stinnes. Seine Kontakte nach Frankreich werden kritisch durchleuchtet und werfen kein gutes Licht auf den Wirtschaftsführer, der von sich das Bild eines aufrechten Patrioten zeichnet.

18.3.1923

In Hamm kommen Minister der Reichsregierung und der Regierung Preußens mit Vertretern des Ruhrgebiets zusammen. Reichspräsident Friedrich Ebert nimmt ebenfalls teil und dankt für den geleisteten passiven Widerstand, der fortgesetzt werden müsse.

19.3.1923

Heute feiern der dritte und vierte Teil des Historienfilms Fridericus Rex im Ufa-Palast am Berliner Zoo Premiere. An dem Drehbuch von Hans Behrend scheiden sich die Geister. Kommunisten rufen zum Boykott auf während Konservative den Film feiern. Nur Otto Gebühr als preußischer König findet die Rolle seines Lebens.

20.3.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt appelliert: „Französischer Sadismus wird nicht siegen, wenn Ihr Euch Eurer Pflicht bewusst bleibt. Eure Pflicht ist: Weitere Beiträge zum Deutschen Volksopfer.“ Für die Ruhrhilfe haben die Beamten und Angestellten der Kreisverwaltung 104.000 Mark gespendet.

21.3.1923             

Die jüdische Gemeinde Münchens wird bei Ministerpräsident Eugen Ritter von Knilling wegen der Lage der Juden in Bayern vorstellig. Die Abordnung beklagt einen „Mangel an Rechtsschutz“ vor den „lebens- und eigentumsbedrohenden Terrorakten“.

22.3.1923

Der Innenminister Preußens, Carl Severing (SPD), fürchtet einen Putschversuch der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP) und erlässt ein Verbot.

23.3.1923

Schulabschlussfeier am ehrwürdigen Wittelsbacher Gymnasium in München. Schulleiter Gebhard Himmler klagt den Schieber- und Wuchergeist der Zeit an, der sich heute schon in die Schule eingeschlichen habe. Sein Sohn Heinrich sucht gerade nach Wegen, sich politisch zu engagieren.

24.3.1923

Die Menschen diskutieren noch immer über den Monumentalfilm Fridericus Rex. Die Lichtbild-Bühne kommentiert in ihrer heutigen Ausgabe: „Selten ist wohl ein Filmwerk so missdeutet – und auch missbraucht worden, wie dieser Film, den man sowohl als nationalistischen, wie auch als antimilitaristischen Tendenzfilm aufzuputschen beliebt hat. In Wirklichkeit will dieser Film nichts anderes sein, als ein großes historisches Filmwerk, und wenn es die Aufgabe eines historischen Films ist, eine Zeitepoche widerzuspiegeln, so kann man wohl sagen, dass dieser einer der besten historischen Filme ist, die je geschaffen wurde. Otto Gebühr hatte die von ihm geschaffene Fridericus-Gestalt noch vertieft und bot nicht nur in der Maske eine treffliche Charakterstudie des großen Königs.“

25.3.1923

Um ihn nicht „verbauern und verschlesiern“ zu lassen, haben seine Eltern den jungen Helmuth James von Moltke in das Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee geschickt. Die moderne Pädagogik soll den Jungen zu einem gebildeten, weltgewandten Menschen formen. Doch weit gefehlt. Der junge Helmuth findet dort nicht den Geist, den er aus der eigenen Familie kennt. Er eckt an, prügelt sich, dabei platzt ein Trommelfell. Als das Schuljahr Ostern endet, ist er froh, wieder auf Gut Kreisau zu sein.

Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke 1907-1945. Eine Biographie, München 2007.

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article753577/Helmuth-von-Moltke-der-charmante-Kaempfer.html

https://www.chbeck.de/brakelmann-helmuth-james-moltke/product/21325

26.3.1923

Die Oldenburger Zeitung für Volk und Heimat berichtet: „Der Jungdeutsche Orden, der auf dem Boden der Verfassung steht und eine Gemeinschaft aller gut deutsch gesinnten Männer herstellen will, hatte hier eine Gefolgschaft, diese ist in einen höheren Grad, eine Brüderschaft verwandelt worden und berechtigt, neue Gefolgschaften zu bilden.“ Der Jungdeutsche Orden ist antisemitisch und elitär, tritt aber für die Versöhnung mit Frankreich ein und ist der größte nationalliberale Verband der Weimarer Republik. Das Ziel ist die Schaffung eines „wahren demokratischen Staatsaufbaus“. Die Zeitung meldet:  „In Zwischenahn wird am kommenden Sonnabend eine Gefolgschaft gebildet, ein Zeichen, daß der Jungdeutsche Ordensgedanke im Lande lebendig ist.“

Hier zum Nachlesen die Tagespresse des 26.3.1923: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=26.3.1923

27.3.1923

Ein leidiges Thema: Der Reichstag beschließt ein Gesetz zur Erhaltung leistungsfähiger Krankenkassen. Die Gesundheitspolitik sorgt für Streit. Ärzte streiken und die Krankenkassen unterhalten eigene Krankenhäuser und stellen Mediziner ein.

28.3.1923

Bei einem Grubenbrand auf der Zeche Minister Achenbach, einem Steinkohlebergwerk in Lünen im Ruhrgebiet kommt es zu einem Grubenbrand. Fünf Bergleute sterben.

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/283262/der-ruhrbergbau/

29.3.1923

Die Volksstimme berichtet von einer Feier der Arbeiterjugend am in Diesdorf: „Das umfangreiche Programm verspricht frohe Stunden. Lieder, Rezitationen, eine Szene aus Goethes Faust, Musikstücke sowie ein Vortrag über Erneuerung im Sozialismus werden den Abend ausfüllen.“

30.3.1923

Die Morgenausgabe der Berliner Börsen-Zeitung meldet: „Massenausweisungen ohne Beispiel“. Die französische Besatzungsbehörde hat mit sofortiger Wirkung „250 Zollbeamte, ferner die Bürgermeister von Montabaur, von Sieglar, die Landräte von Wittlich und Heinsberg“ und den Chefredakteur der Westdeutschen Tageszeitung ausgewiesen. Insgesamt sind aus den „altbesetzten Gebieten bis dato fast 2500 Menschen ins Reichsgebiet abgeschoben worden.

31.3.1923

Krupp-Mitarbeiter demonstrieren in Essen friedlich gegen die französische Besatzung. Dann eröffnen französische Soldaten das Feuer. An diesem Karsamstag sterben 13 Menschen, 32 werden verletzt. Die Franzosen statuieren ein Exempel. Der französische Leutnant wird zum Nationalhelden stilisiert. Die Firmenleitung wird verhaftet und zu Gefängnishaft und hohen Geldstrafen verurteilt. Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote titelt: „Eine unerhörte Bluttat in Essen.“


1.4.1923

Anita Berber, die skandalträchtige, Kokain abhängige und geniale Tänzerin tanzt diesen Monat in der deutschen Hauptstadt. Wenn sie mehr Haut zeigt als das nach den Moralvorstellungen dieser Tage Not tut, dann liegen ihr nicht nur die Männer, sondern auch Frauen zu füßen. Klaus Mann schreibt über sie: „Verderbte Bürgermädchen kopieren die Berber, jede bessere Kokette wollte möglichst genau wie sie aussehen.“

https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/taenzerin-anita-berber-das-nackte-leben-a-430326.html

2.4.1923

Französische Truppen besetzen die ersten drei von insgesamt elf Zechen im Ruhrgebiet, um die dort auf Halde lagernde Kohle abzutransportieren. Doch das klappt nicht so recht, weil die Eisenbahnarbeiter nicht mittun wollen.

3.4.1923

Da Gelnhäuser Tageblatt druckt die Ankündigung der Deutschnationalen Volkspartei für die am kommenden Samstag geplante Bismarckfeier im Saal der Gaststätte „Hoffnung“ an. „Deklamationen, musikalische Vorführungen, Volkstänze nehmen den Abend ein. Alle Nationalgesinnten sind zu der Bismarckfeier herzlich eingeladen.“

4.4.1923

In Potsdam besteht die erste Frau in Preußen die Gesellenprüfung als Kunstmöbeltischler.

5.4.1923

Der Lübecker Volksbote warnt: „Im geheimen wühlen sogenannte nationale Verbände und Deutsch-Völkische die Republik abzuwürgen und den Monarchistenstaat wieder aufzurichten. Das bedeutet Kastenherrschaft und Unterdrückung in schlimmster Form.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-079.pdf

6.4.1923

Geiz ist geil! Der Händler Philipp Wallich aus Wächtersbach inseriert im Gelnhäuser Tageblatt: „Durch meinen enorm billigen Verkauf ist der Andrang nachmittags derart groß, dass ich das verehrte Publikum bitten muss, möglichst auch die Vormittagsstunden zum Einkauf benutzen zu wollen.“

7.4.1923

Das erste große Passagierschiff der Nachkriegszeit, die „Bremen“ mit 10826 BRT wird in Dienst gestellt. Das Schiff ist der Stolz der Norddeutschen Lloyd, eines traditionsreichen Schifffahrtsunternehmens.

8.4.1923

Verkehrsminister Wilhelm Groener und Reichspräsident Friedrich Ebert appellieren an die Reichsbahnmitarbeiter in den besetzten Gebieten, ihren „Heldenkampf“ weiterzuführen.

9.4.1923

Das Durchlacher Tageblatt berichtet aus Mannheim: „Die Franzosen spielen sich in den Räumen der Firma Benz als unumschränkte Herren auf. Sie durchsuchen die Beamten bei jedem Verlassen der Betriebsräume. Die Lohnzahlung ist erschwert. Die Firma Benz hat infolge dieser Belästigung beschlossen, auch ihre Beamten aus den Büros zurückzuziehen.“

10.4.1923

In Essen nehmen tausende Menschen Abschied von den toten Krupp-Arbeitern. An der „Trauerfeier für die in Essen als Opfer der französischen Einbruchsarmee Gefallenen“ im Reichstag zu nimmt auch Reichspräsident Friedrich Ebert teil. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Die Republik sucht nach Einigkeit. Reichskanzler Wilhelm Cuno sagt: „Mir ist, als sähe ich hinter den Särgen die schmerzensreiche Schar der Vielen den Weg des Leids in Essen gehen, der Toten, wie der im Kerker Schmachtenden, in der Verbannung Lebenden.“

11.4.1923

Der Großindustrielle Hugo Stinnes ist empört. Der reichste Deutsche war mit seiner Frau ins Ruhrgebiet unterwegs, als ihn französische Soldaten aus dem bequemen Schlafwagen der Eisenbahn herausholen und in einen Gepäckwagen sperren.

12.4.1923

Bei der Tagung des IOC in Rom fällt die endgültige Entscheidung. Deutschland wird nicht an den Olympischen Spielen im kommenden Jahr in Paris teilnehmen. Frankreich lehnt es ab, eine entsprechende Einladung an das Deutsche Reich auszusprechen.

13.4.1923

Hans Adam Dorten gibt der London Times ein Interview, indem er die Integrität des Reiches in Frage stellt. Nicht nur im Auswärtigen Amt ist man außer sich. Dorten hat schon 1919 die Rheinische Republik ausgerufen. Der Separatismus ist eine weitere Herausforderung für die Regierung. Und die Franzosen sehen das mit Wohlgefallen.

14.4.1923

Das Gelnhäuser Tageblatt meldet, dass in der örtlichen Turnhalle ein „in Sandstein gehauener Denkstein“, der die Namen „der für das Vaterland gefallenen Mitglieder des Turnvereins trägt“, eingelassen wurde. Die feierliche Einweihung soll am kommenden Wochenende erfolgen.

15.4.1923

Die Franzosen können nicht einmal 10 Prozent der vorgesehenen Menge an Kohle und Koks aus dem besetzten Ruhrgebiet exportieren. Insgesamt sind inzwischen mehr als 20.000 Personen aus den besetzten Gebieten ins Reichsgebiet ausgewiesen worden.

16.4.1923

August Heinrich von der Ohe kann sich nur noch wundern. Er schreibt in sein Tagebuch: „Zwei Zentner Heu und 2 1/2 Zentner Stroh für zusammen 67.500 Mark gekauft. Früher würde man das Ganze für 10 Mark gekauft haben.“

17.4.1923

Am Kieler Theater kommt es zu einem Skandal. Carl Zuckmayer ist Dramaturg an der Bühne und führt das Lustspiel „Eunuchen“ des römischen Dramatikers Terenz vor einem ausgewählten Publikum auf. Allerdings übersetzt er den Stoff „unverblümt“, wie er selbst schreibt. Die vulgäre Sprache und die Bezüge zum Jetzt sind unverkennbar. Zwei Figuren, der Feldherr Thraso und Gnatho, tragen Masken mit dem angedeuteten Antlitz von Hindenburg und Ludendorff. Zum Schluss betritt eine nackte Schauspielerin die Bühne, die Brüste orange geschminkt. Die Theaterkommission wird am folgenden Tag entscheiden, dass das Stück nicht öffentlich aufgeführt werden darf.

18.4.1923

Käthe Kollwitz erholt sich dieser Tage noch von der schweren Operation. Sie ist mit ihrem Mann in Neuruppin und notiert in ihrem Tagebuch: „Die Sonne scheint, die Amseln singen, nichts vom Berliner Lärm – Ruhe – Ruhe – Ruhe zum wirklichen Ausruhen.“

19.4.1923

Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein berichtet im Kabinett: „Gestern trat ein unerhörter Ansturm ein, weit über den normalen Bedarf.“ Wenn die Reichsbank wie bisher auf die Inflation reagiert, so warnt er, dann seien der Goldschatz und die Reichsbank in 10 Tagen „vernichtet“.

20.4.1923

Im Münchner Zirkus Krone inszeniert eine Partei, die NSDAP, den 34. Geburtstag ihres Vorsitzenden und Führers Adolf Hitler. „Führer“, so nennen sie ihn. 9000 Menschen jubeln ihm zu und Dietrich Eckart dichtet für ihn im Völkischen Beobachter: „Die Herzen auf! Wer sehen will, der sieht! Die Kraft ist da, vor der die Nacht entflieht!“

21.4.1923

Der bayerische Innenminister kündigt an, dass auch in Bayern wie im Reich eine Milderung des Tanzverbots beschlossen werde, wenngleich es bedauerlich sei, „dass in einer Zeit wie der jetzigen überhaupt getanzt wird.“

22.4.1923

In München beginnt eine neue Reihe von Abendvorlesungen an der Universität. Die Titel der Vorträge lauten u.a. „Die Frau als Gattin und Mutter“, „Die Romantiker und Brahms“, „Was soll die Frau von der Ernährung der Familie wissen“ und „Die Erde und das Leben auf ihr“.

23.4.1923

Heute feiert der nationalistische Publizist Arthur Moeller van den Bruck, prominenter Vertreter der „Konservativen Revolution“ Geburtstag. Der Titel seines in diesem Jahr erschienenen Buches „Das dritte Reich“ wird künftig von den Nazis aufgegriffen.

https://www.dhm.de/lemo/biografie/arthur-moeller-van-den-bruck.html

24.4.1923

Neue Regeln im Fußball werden eingeführt. Nachdem die Verlängerung nicht reglementiert war, beträgt die „Maximaldauer eines Entscheidungsspiels“ nunmehr „90 + 30 + 30 = 150 Minuten“. Sepp Herberger spielt diese Saison beim VfR Mannheim und nimmt die neuen Regeln zur Kenntnis.

25.4.1923

Ohne parlamentarische Debatte beschließt der Reichstag einen Nachtragshaushalt in Höhe von 4,5 Billionen Reichsmark, um die durch den passiven Widerstand und die Inflation gestiegenen Ausgaben zu decken.

26.4.1923

In München kommt es zu Ausschreitungen zwischen Kommunisten, Sozialdemokraten und Nazis. Hitler malt das Schreckgespenst eines Linksputsches an die Wand und fordert ein Verbot der Feiern zum 1. Mai.

27.4.1923

Das vom Reichstag beschlossene Gesetz über den Verkehr mit Absinth tritt in Kraft. Im Gesetz heißt es: „Es ist verboten, den unter dem Namen Absinth bekannten Trinkbranntwein, ihm ähnliche Erzeugnisse oder die zur Herstellung solcher Getränke dienenden Grundstoffe einzuführen, herzustellen, zum Verkaufe vorrätig zu halten, anzukündigen, zu verkaufen oder sonst in den Verkehr zu bringen.“

https://www.welt.de/geschichte/article136207791/Dieser-Trank-macht-Frauen-willig-Maenner-schwach.html

28.4.1923

Der sozialdemokratische Lübecker Volksbote schreibt: „Hakenkreuz und Sowjetstern sin die Symbole für ein und dieselbe Geisteseinstellung: die rücksichtslose Anbetung der Gewalt und der Macht im politischen Leben. Kein Wunder also, wenn diese beiden Pole, die aus den entgegengesetzten Extremen kommen, immer mehr zueinander hinstreben.“

http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-099.pdf

29.4.1923

Der Volksstaat Hessen erklärt die NSDAP für verfassungsfeindlich und verbietet sie. Die Regierung fordert die Auflösung der Partei. In Preußen war die Hitlerpartei bereits am 23. März verboten worden.

30.4.1923

Unter der Überschrift „Die Frau und der Maigedanke“ kann man heute in der Danziger Volksstimme lesen: „Mit ernsten Augen und Gedanken ging die junge Arbeiterin in das Leben hinein, voller Illusionen und voller Zukunftsträume. Sie hat sich nicht zerbrechen lassen. Mutig steht sie in den Reihen der geistigen Kämpfer, die die Macht es Schwertes aus der Welt schaffen und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verhindern wollen. Sie weiß, dass es noch ein harter mühseliger Weg bis zum Ziele ist.“ Die Zeilen sind von Marie Juchacz.

http://library.fes.de/danzig/pdf/1923/1923-100.pdf 

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