Kanzelrede zum Reformationstag

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Schwestern und Brüder!

Reformationstag. Ein streitbarer Tag ist das. Und über 500 Jahre her. Was sagt er uns heute?

Vielleicht sagt uns der Tag, dass Wandel immer ist. Und der Reformationstag ist ein guter Anlass sich noch einmal Luthers theologische Erkenntnisse vor Augen zu führen. Dazu gehört ganz wesentlich die Idee einer ecclesia semper reformanda, einer Kirche, die stets offen ist für die göttliche Reformation, also für Veränderung. Und die sich zu den Veränderungen in der Welt verhält. Und wir leben wahrlich in einer Welt des Wandels.

Die Reformation war ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung. Und es ging nicht gegen das Papsttum oder die Gründung einer neuen Kirche. Es ging um eine Reform an Haupt und Gliedern. Luther wollte eine starke Kirche. Für ihn war klar: Ohne Kirche kann es keinen Glauben geben.

Dazu ein Gedanke: Wie ist das mit den Austritten aus der Kirche? Man kann nichts verändern, wenn man nicht dabei ist. Soviel steht fest. Und ob man das Christsein auf die eigene Beziehung zu Gott reduzieren kann, ob es ohne die Gemeinschaft der Gläubigen geht, daran darf man Zweifel anmelden, wenn man das Neue Testament ernst nimmt.

Es soll heute nicht um die Unzulänglichkeiten der Evangelischen Kirche gehen, aber Luthers Theologie lohnt am Reformationstag einer näheren Betrachtung auch deshalb, weil sie uns auf den „Markenkern“ des Christseins zurückführt. Vielleicht ist einer der Gründe, warum sich Menschen von der Kirche abwenden, dass sie nicht mehr erkennen, dass die frohe Botschaft im Vordergrund steht. Sie hören von der Kirche nur, wenn es um die Frage geht, ob man für oder gegen eine moderne Landwirtschaft ist, für oder gegen ein Tempolimit, für oder gegen den Einsatz der Bundeswehr in der Corona-Amtshilfe. Alles spannende politische Fragen – zugegeben.

Und ja: Die Kirche und Christen können zu diesen Fragen eine Meinung haben. Ob es aber so klar ist, welche Meinung sich aus der christlichen Botschaft zu diesen Fragen ableiten lässt, darf bezweifelt werden. Und: Parteien, Medien, Gewerkschaften, Verbände, Wissenschaftler haben zu all diesen Fragen auch eine Meinung. Braucht es dafür also die Kirche als Stichwortgeber?

Wenn die Kirche nur noch mit alltäglichen Themen in Erscheinung tritt, dann verpasst sie es, ihr „Alleinstellungsmerkmal“ hervorzuheben. Das Evangelium von Jesus Christus, dessen Botschaft tröstet und befreit zugleich.

Würde Luther also angesichts des Zustandes der Christenheit in Deutschland aufstampfen und uns mit einer seiner wütenden und dennoch oft geistreichen Schriften oder Predigten ins Gewissen reden?

Kümmert euch gefälligst um Gott!

Oder würde der ja durchaus lebensbejahende und praktische Luther uns dazu anhalten, nicht ständig auf den Mangel zu schauen und das Jammern einzustellen und endlich mal anzupacken?

Gewinnt die Menschen für Jesus Christus!

Im Mittelpunkt von Luthers Theologie finden wir die so genannte Rechtfertigungslehre. Es geht dabei um die Frage, ob wir uns die Liebe Gottes verdienen müssen, verdienen können. Ist derjenige von Gott mehr geliebt, der „gottesfürchtig“ lebt, der die Gebote nicht nur achtet, sondern danach handelt? Luther sah darin eine maßlose Selbsterhöhung des Menschen: Zu denken, dass man durch eine bestimmte Lebensweise Gott praktisch auf Augenhöhe begegnen könne. In der Lehre Augustinus stehend wusste der Mönch Luther, „dass der Mensch lieber selbst Gott sein will“, anstatt sich selbst zu erkennen und zu realisieren, „wie wenig perfekt er durch sein Leben stolpert“.

Die Liebe Gottes ist eine Gabe, ich kann sie nicht erwerben durch mein Tun. Luther hat erkannt, dass das Streben nach Vollkommenheit im Glauben nicht um Gottes Willen geschah, sondern dass das Ringen um das Heil von purem Egoismus getrieben war.

Bei vielen Debattenbeiträgen zum Klimawandel habe ich das Gefühl, dass es ähnlich ist. Der Ruf nach dem Verzicht auf die Flugreise, nach der Abschaffung des Autos und dem Verbot von Wegwerfbechern für den Kaffee für unterwegs geschieht nicht, weil man ernsthaft glaubt, damit das Klima zu retten. Wer statt zweimal nur noch einmal in Urlaub fliegt, der verzichtet ja nicht wirklich. Und wer ein bisschen informiert ist, der weiß zudem, dass das nicht die Lösung sein wird angesichts unseres Anteils an klimaschädlichen Emissionen auf der Welt. Wer auf eine Flugreise verzichtet oder seinen Mehrwegkaffeebecher überall hinträgt, der reinigt damit vor allem sein Gewissen, egal ob er damit das Klima gerettet hat oder nicht. In Wahrheit ist diese Kultur des Verzichts also wenig ambitioniert und beruhigt nur das schlechte Gewissen. Es ist aus deutscher Sicht zudem eine Kultur, die wir uns leisten können.

Ein Beispiel ist das Auto. Ist es denn überhaupt richtig, zu fordern, aufs Auto zu verzichten? Ist das für die so genannten ländlichen Räume eine Antwort? Oder braucht es nicht viel mehr Autos, die klimaneutral fahren, die am besten sogar autonom fahren, damit junge und alte Menschen auch auf dem Land partizipieren können an den Möglichkeiten unserer Gesellschaft? Der Verzicht ist hier keine Verheißung, keine Lösung und vor allem leicht zu fordern, von jemandem, bei dem die S-Bahn im Fünf-Minuten-Takt fährt. Einfache Antworten für komplizierte Fragen funktionieren meistens nicht.

Und Luther würde wahrscheinlich zornig werden, angesichts der Oberflächlichkeit in vielen Debattenbeiträgen, und vor allem angesichts der Idee, sich durch ein wenig vermeintlichen Verzicht „freikaufen zu können“ wie beim Ablass.

Nochmal: Gnade, Liebe und Vergebung sind der Grund der Rechtfertigungslehre. Wir wissen uns also in der Gnade Gottes. Wir vertrauen darauf, dass er uns liebt und dass er uns unsere Fehler vergibt. Darauf berufen wir uns gegenüber ihm.

Doch wir können nicht darauf vertrauen, dass wir uns als Menschen gegenseitig so begegnen. Das harte Urteil mancher Klimaaktivisten gegenüber der älteren Generation, diese habe den Planeten an den Rand des Kollaps geführt, ist nicht nur wohlfeil, weil keine Generation so viel konsumiert hat und gereist ist, wie die jungen Leute heute, sondern weil es verkennt, dass jede Generation ihre eigenen Sorgen, Krisen und Herausforderungen zu meistern hat. Wir wären nicht hier, wenn die Generationen vorher ihre jeweiligen Herausforderungen nicht gemeistert hätten.

Hinzu kommt: Wenn wir die Menschen vor uns nach unseren heutigen Wertmaßstäben beurteilen, wird niemand bestehen können. Und dann wird uns mit dem Wissen künftiger Generationen ganz sicher dasselbe Schicksal ereilen. Wir bauen auf die Gnade Gottes, aber sind gnadenlos im Umgang miteinander.  

Das wesentliche an Luthers Rechtfertigungslehre ist, dass sie uns frei macht. Da wir wissen, dass Gott uns liebt und annimmt, sind wir frei. So wie es im Brief des Paulus an die Korinther heißt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“

Das meint gerade nicht, dass wir als Christen bessere Menschen sind. Es meint, dass wir jeden Tag neu anfangen können, es besser zu machen, auch wenn wir gestern gefehlt haben. Und ja, darum müssen wir uns fragen, was wir alle tun können zur Bewahrung der Schöpfung.

Das Aufbrechen von Hierarchien ist in Luthers Theologie angelegt. Er hat mit Blick auf die Kirche gesagt: „Was aus der Taufe gekrochen ist, kann sich rühmen, dass es Priester, Bischof, Papst ist.“ Es gibt in der Evangelischen Kirche kein Priestertum, dass über den Gläubigen steht. Luther überträgt einen wichtigen Satz paulinischer Theologie auf die Kirche. Paulus selbst fasst es noch weiter: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wie sehr unsere Gesellschaft nicht nur mit Blick auf Herausforderungen wie den Klimawandel der Reformation bedarf erkennt man daran, wie weit wir von diesem Anspruch des Paulus noch entfernt sind angesichts von Alltagsrassismus, Antisemitismus und der Benachteiligung von Menschen mit Behinderung.

Was ist nun die Idee Luthers, um die Menschen wieder Gott näher zu bringen? Da die Rechtfertigung des Menschen nicht durch sich selbst, sondern durch Gott geschieht, ermöglicht es, auf Gott zu vertrauen. Und Luther gibt uns fünf Ideen, die dieses exklusive Verhältnis beschreiben. Er ruft uns dabei nicht zum Verzicht auf! Sondern er will mehr für uns Menschen!

Solus Christus – allein Christus. Allein Christus ist derjenige, durch den wir Gott nahe kommen. Durch seinen Tod am Kreuz und mehr noch durch seine Auferstehung. Wir brauchen mehr von dieser Hoffnung, nicht weniger.

Sola Gratia – allein aus Gnade. Wenn wir uns angenommen wissen von Gott, dann macht uns das frei, uns selbst anzunehmen. Wir sind nicht mehr, wie Luther gesagt hat, in uns selbst verkrümmt! Wir brauchen mehr von dieser Gnade und Liebe, nicht weniger.

Solo Verbo – allein im Wort. Die Macht des Wortes ist es, auf die es ankommt. Das findet darin Ausdruck, dass sich kein Mensch Vergebung selbst zusprechen kann. Um solche Worte der Vergebung zu hören, muss man zuhören. Mehr und nicht weniger.

Sola Scriptura – allein aufgrund der Schrift. Wir spüren heute noch, dass die biblischen Texte Wahrheiten enthalten – über uns und die Welt. Darum berühren sie uns, selbst wenn wir sie deuten müssen. Mehr Geschichten von Jesus tun uns gut, nicht weniger.

Sola Fide – allein durch den Glauben bedeutet noch einmal: Ich selbst kann nichts für meine Rechtfertigung tun. Ich muss mir Gottes Gnade sozusagen „gefallen lassen“. Ich brauche mehr von dieser Gnade, nicht weniger.

Angesichts dieser Aussichten, warum sollten wir uns mit weniger begnügen? Nein! Wir brauchen mehr vom Richtigen! Wir sollten den Blick auf das Wesentliche nicht von unwichtigen Dingen ablenken lassen.

In einer der Schriften der Kirche zu der Frage, wie man den Reformationstag begehen soll, steht: Fröhlich. Und noch mehr: Da steht, dass evangelische Christenmenschen den Reformationstag „in dem fröhlichen Bewusstsein“ feiern sollen, „dass die reformatorische Freiheitsbotschaft zur Entstehung eben dieses Rechtsstaats beigetragen hat“.

Wenn das so ist, warum vertrauen wir dann nicht darauf, dass mit dieser reformatorischen Freiheitsbotschaft wir auch andere vor uns liegende Herausforderungen meistern und die Welt besser machen können? Das geht nicht mit Verzicht, sondern mit einem guten Mehr. Einem guten Mehr an Innovation, Mut, dem Willen zur Veränderung, Vertrauen in andere Menschen und auf Gott.

Zudem: Wenn Verzicht das Prinzip ist, was sagen wir dann den Menschen, die auf ihren Glauben an Jesus Christus verzichten müssen, weil sie in einem Teil der Welt leben, in denen Christen verfolgt werden? 

Wenn Verzicht das Prinzip ist, was sagen wir den Menschen, die beobachtet haben, in welchem Wohlstand wir auf der nördlichen Erdhalbkugel leben und gelebt haben und die sich nun eine solche Zukunft in materieller Sicherheit, mit einem guten Gesundheitssystem, in Frieden und einer schützenden Ordnung für sich und ihre Kinder wünschen?

Die verfolgte Christin in Nordkorea, der eingesperrte Uigure in China, der auf ein besseres Leben hoffende Flüchtling, der über Weißrußland zu uns kommt, die junge Frau aus Afghanistan, die jetzt nicht mehr zur Universität gehen darf und der Knabe in Mali, der dank des Internets sieht, wie wir in Europa leben und sich das auch wünscht: Glauben wir ernsthaft, dass wir mit der Botschaft „weniger“ diese Menschen erreichen? Ist das nicht zynisch und vor allem unrealistisch? All diese Menschen wünschen sich mehr. Mehr Sicherheit, mehr Freiheit, mehr Hoffnung und auch mehr Zukunft und Wohlstand. Sie wünschen sich mehr Glaube, Liebe, Hoffnung.

Wahrlich zornig wäre Luther, weil wir in Wahrheit dieser Verzicht für uns in Wahrheit gar keiner ist. Darum haben wir ihn längst zum Prinzip gemacht haben und glauben, dass könne sich auch der Rest der Welt zu eigen machen.

Und vielleicht wenden sich auch deshalb viele Menschen von der Kirche ab. Wir verzichten längst darauf, den Anspruch zu haben, mehr Menschen für die frohe Botschaft zu begeistern. Wir verzichten darauf, lauter über das Evangelium zu sprechen und zu verkünden.

Dabei hatte sich die Kirche nach ihrer Schuld im Nationalsozialismus vorgenommen, nicht weniger, sondern mehr zu tun. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis nach dem Krieg hieß es: „Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Dieses Mehr an Mut, Treue und Fröhlichkeit sowie brennender Liebe wünsche ich uns zum Reformationstag. Damit kann man so viel mehr gewinnen – im Vertrauen darauf, dass wir von Gott angenommen und geliebt sind als seine Kinder. Das wollte Luther eigentlich mit der Reformation. Er würde vielleicht eher traurig sein, wie wenig wir aus dem, was er damals erkannt hat, heute machen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne. Amen.

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