Neun Bücher, um die Welt besser zu verstehen.
„Wer Bücher schenkt, schenkt Wertpapiere.“
Erich Kästner
“Das, was war interessiert uns nicht darum, weil es war,
sondern weil es in gewissem Sinne noch ist und wirkt.”
Gustav Droysen
Manchmal wundere ich mich, wie wenig Menschen über unsere Welt und über ihre eigene Herkunft wissen: Die ihrer Familie, die ihres Landes oder von uns allen, der Menschheit selbst. Doch mir persönlich geht es bisweilen ähnlich. Ich ertappe mich dabei, dass ich sicher geglaubtes Wissen infrage stellen muss. In der letzten Zeit sind mir immer wieder Bücher in die Hände gefallen, die mich gezwungen haben, tradiertes Denken und vermeintliches Wissen zu hinterfragen – und nein; damit sind nicht sogenannte alternative Fakten gemeint, wie sie Verschwörungstheoretiker, Wirrköpfe und Feinde der Aufklärung verbreiten.
Mein besonderes Augenmerk gilt dabei Fragen der Identität. Wer sind wir? Wie sind wir so geworden? Was hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind: Als Individuen, aber auch als Gemeinschaft, als Nation? Diese Frage kann man nicht beantworten, wenn man sich nicht der Historie zuwendet. Gerade die Geschichte erschließt sich uns immer wieder neu. Das Vergangene ist eben nicht abgeschlossen, sondern prägt unser Denken und Handeln, ob wir wollen oder nicht, bis heute.
Dass wir die Zukunft nur gewinnen können, wenn wir die Gegenwart verstehen – und das geht nicht ohne historisches Wissen – davon bin ich zutiefst überzeugt. Deswegen empfehle ich die folgenden neun Bücher zur Lektüre. Keine Angst: Es sind nicht alles „Geschichtsbücher“. Aber die hier gelisteten Bücher sollte man aus meiner Sicht gelesen haben, um unsere Welt (besser) zu verstehen.
Wer noch Zeit und Muße hat, ein zehntes Buch zu lesen, dem möchte ich gerne mein nächstes Buch „Was hält uns zusammen? Lösungen für die Einwanderungsgesellschaft“ empfehlen, das am 25. Mai 2021 im Herder Verlag erscheinen wird. Hier der Link mit allen Informationen. Vielleicht sehen wir uns im Herbst bei der ein oder anderen Lesung…
Johannes Krause/Thomas Trappe, Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren, Berlin 2019.
Das Buch „Die Reise unserer Gene“ von Johannes Krause und Thomas Trappe ist eines dieser Bücher, die man gelesen haben sollte. Die noch recht junge Wissenschaft der Archäogenetik gewährt uns Einblicke in unsere eigene Vorgeschichte und die Geschichte unseres Kontinents. Und obwohl die Entschlüsselung unserer DNA uns weit zurückführt in die Vergangenheit, so sind die damit verbundenen Erkenntnisse und die sich daraus ableitenden Fragen hochaktuell.
Anhand der Genetik lässt sich nachweisen, dass Europa schon immer ein Kontinent war, der von Migration geprägt worden ist. Und auch uns würde es ohne die großen Einwanderungswellen vor 8.000 und 5.000 Jahren nicht geben. Wer nachvollziehen will, warum wir alle mit Karl dem Großen verwandt sind, warum die Wurzeln der schwäbischen Bäuerin in Anatolien liegen, warum jeder Europäer bis zur drei Prozent des Genoms eines Neandertalers in sich trägt, aber kein Afrikaner mit dem Neandertaler verwandt ist, warum der Elsässer dem Badener genetisch näher ist, als der Badener dem Friesen, dem sei dieses kurzweilige und zugleich sehr informative Buch anempfohlen.
Wie aus den dunkelhäutigen Jägern und Sammlern, die einst diesen Kontinent bewohnten, die heutigen Europäer wurden, das erzählt dieses Buch. Das Ergebnis: Migration wird ausgelöst durch Krisen und Katastrophen, sie kann solche auch verursachen, aber ohne Migration würde es keine Innovationen und keinen Fortschritt geben. Europa wäre nicht der Kontinent, der er heute ist. Die Globalisierung ist, zumindest genetisch bedingt, übrigens keine neue Entwicklung. In den letzten 10.000 Jahren haben sich die genetischen Unterschiede der Menschen halbiert. All diese neuen Einsichten verlangen neues Denken.
Tim Marshall, Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt, München 2015.
Einer der klügsten politischen Analysten den ich kenne pflegt immer zu sagen: „Zwei Dinge kann man nicht ändern: Geschichte und Geographie.“ In der Tat versteht man viele weltweite Konflikte und Probleme nicht ohne einen Blick auf die Landkarte. Anhand von zehn Karten zeigt das kurzweilige Buch des britischen Journalisten Tim Marshall ausführlich, warum Putin so besessen von der Krim ist und warum der Nahe Osten nach den künstlichen Grenzziehungen durch die Kolonialmächte nicht zur Ruhe kommt und dort immer wieder der Versuch unternommen wird, Grenzen mit Blut neu festzulegen.
Wir müssen uns als Europäer aber gar nicht in der Welt umschauen, um zu verstehen, wie sehr die Geographie unsere Geschichte bestimmt: Das Klima, die Lage unseres Kontinents sind Grundlage für die Entwicklungen der europäischen Völkerschaften. Das verstehend zeigt sich, warum es so schwierig war, ein Europa des Friedens zu schaffen und warum die Bewahrung dieses Friedens nicht selbstverständlich ist. Das verlangt mindestens so viel Aufmerksamkeit, wie der Blick über unseren Kontinent hinaus und führt zu spannenden Fragen an uns selbst.
Und ein Blick auf die Karte ist auch für das Verstehen der USA wichtig. Zwar hat China das Prinzip der USA, überall auf der Welt „Stützpunkte“ zu errichten, um sich Macht und Einfluss – militärisch und ökonomisch – zu sichern, inzwischen übernommen, aber gleichwohl ist es viel zu früh für einen Abgesang auf die Weltmacht des Westens: Die Bevölkerung der USA wird nicht älter, wie in Europa, die USA sind eine Wirtschaftsmacht und militärisch unangefochten, die Nation ist immer noch ein Sehnsuchtsort und das Land verfügt über 17 der 20 weltbesten Universitäten. Die USA ist mit ihrem Blick auf die Welt geprägt durch die Generationen von Einwanderern, die mehrheitlich aus Europa kamen. Nicht nur durch die Verschiebung der Macht, sondern auch durch die zahlreichen Einwanderer aus Asien und Lateinamerika werden sich die USA wandeln. Langsam aber sicher. Auch das hat etwas mit der Geographie zu tun und damit sollten wir uns in Europa auseinandersetzen.
Peter Frankopan, Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt, Reinbek bei Hamburg 2017.
Wer das Buch des britischen Historikers Peter Frankopan liest, der versteht sofort, was nach wie vor ein Problem europäischen Denkens ist: Wir halten uns für den geographischen und politischen Mittelpunkt des Globus. In Wahrheit ist aber der Mittlere Osten nicht nur der Geburtsort der drei Weltreligionen, sondern bis zur frühen Neuzeit waren Bagdad, Samarkand und Buchara und nicht Harvard, Oxford und Yale die geistigen Zentren der Welt. Mit der Entdeckung Amerikas entstand dann ein bis heute gültiges, neues Narrativ. Die erste Weltmacht war aber keine europäische Nation, sondern Persien. Und die „neue Seidenstraße“ symbolisiert nicht der Aufstieg Chinas zur Weltmacht, sondern steht für die Rückkehr Chinas an einen in der Geschichte der Menschheit angestammten Platz. Wer nun an das Römische Reich denkt, der wird von Frankopan daran erinnert, dass der Reichtum Roms wesentlich aus den östlichen Provinzen und dem Handel mit seinen im Osten ansässigen Nachbarn stammte und nicht aus Gallien, Britannien und Germanien.
Und auch das Christentum stand mit Erzbischöfen in Basra und Mosul in einer Blüte im Osten, als von Köln und dem Dom am Rhein noch kein Mensch sprach. Es tut Not, sich bewusst zu machen, dass einst die islamische Welt geprägt war von Wohlstand, Wissen und Macht, während Europa zu dieser Zeit ein „Hort des Unwissens“ war. Bei den Wikingern und in Venedig galt chinesische Seide als Symbol von Reichtum und Macht. Ihr Blick ging auch nach Osten und keineswegs nach Westen, wie uns die vermeintliche Entdeckung Amerikas schon durch die Nordmänner suggeriert. Die Pest, Klimaveränderungen und die Entdeckung Amerikas führten zwischenzeitlich zu einer Veränderung dieser Weltordnung. Vorher war sich die muslimische Welt ihrer Sache und Identität sicher, war tolerant und erfolgreich, die christliche Welt hingegen nicht. Es scheint, als ob wir derzeit in einer umgekehrten Situation leben, wobei inzwischen auch wieder eine zunehmende Unsicherheit des christlich geprägten Europas und des Westens mit Händen zu greifen ist. Sind das ebenfalls Vorzeichen für eine erneute Machtverschiebung in der Welt?
Frakopan erinnert daran, dass der Aufstieg Europas vor allem eine Geschichte der Gewalt ist, die wesentlich auf dem Weltbild einer europäischen Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen und Teilen der Welt basiert. Besonders lesenswert fand ich daher auch das letzte Kapitel, dass in der Tat zu der Frage führt, ob das Handeln der USA und der europäischen Nationen in den Konflikten in Afghanistan, Irak und in Syrien sowie der Umgang mit dem Iran und Saudi-Arabien nicht auch deshalb so sprunghaft und bisweilen orientierungslos wirkt, weil wir uns zu wenig mit der Geschichte dieses Raumes befasst haben und so viele Zusammenhänge dort nicht verstehen. Unser Blick ist damit wieder in den Osten gerichtet, was Frankopans Thesen umso glaubwürdiger und spannender macht.
Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München 2015.
Geschichte wiederholt sich nicht. Und die Einmaligkeit des Holocausts in der Geschichte ist unbestritten. Da ist schon der Buchtitel des amerikanischen Historikers Timothy Snyder eine Provokation. Besagter Timothy Snyder war ein heftiger Kritiker Donald Trumps und zog immer wieder Parallelen zu Trumps Politik und den Mechanismen der Tyrannei, des Totalitarismus und auch des Nationalsozialismus, wenn es um die Beseitigung des Rechtsstaates und der Freiheit ging.
Einer der provokanten Sätze Snyders war für mich beim Lesen des Buches der Vorwurf, dass wir in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust Mitgefühl mit Verstehen verwechseln. Muss man angesichts des unermesslichen Leides nicht vor allem Mitgefühl empfinden? Soll und muss einen das Schicksal der Anne Frank nicht berühren und traurig machen? Muss nicht aus dem Mitgefühl und der Empathie das Verstehen und das „Nie wieder!“ erwachsen? Sicherlich. Darin liegt aber die Gefahr, dass wir, wissend um die Verbrechen, der Annahme anheimfallen, dies könne sich in unserer Gesellschaft so nicht wiederholen. Wer sich diese Haltung zu eigen macht, der verkennt eine Einsicht, die Snyder erschreckend klar herausarbeitet: „Menschen wie wir waren die Täter.“
Der Holocaust mag historisch unvergleichbar sein, die Mechanismen und Vorstellungen der Nazis sind es nicht. Sie sind allgegenwärtig und begegnen uns in der Welt. Snyder zeigt, dass es für die Nationalsozialisten nach der Zerstörung von Ordnung und Recht ein Leichtes war, überall in Europa Mittäter zu finden Diese Einsicht werde jedoch dadurch untergraben, dass der Holocaust im Gedenken oft mit Auschwitz gleichgesetzt wird, wie der Autor kritisiert. Denn die Tore von Auschwitz begrenzen den Tatort und die Täter, aber in Wahrheit geschah der Holocaust in ganz Europa und Tausende taten mit und wussten Bescheid. Das Buch lohnt sich allein deshalb, weil es schonungslos die Mechanismen herausarbeitet und offenlegt, mittels derer die Nationalsozialisten Millionen von Menschen ermordeten – und Millionen waren bereits tot, bevor die erste Gaskammer in Betrieb ging. Deshalb ist dieses Buch ein echter Augenöffner, und dem Appell von Snyder ist nichts hinzuzufügen: „Staaten sollten in die Wissenschaft investieren, damit in Ruhe über die Zukunft nachgedacht werden kann. Das Studium der Vergangenheit gibt uns Hinweise, warum ein solches Vorgehen klug wäre.“
Andreas Fahrmeir, Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee, Stuttgart 2017.
Deutschland als „verspätete Nation“ war ein lange tradiertes Bild in der deutschen Historiographie. In der Tat haben die Deutschen historisch gewachsen einen anderen Bezug zu ihrer Nation als viele unserer europäischen Nachbarn, wie Andreas Fahrmeir herausarbeitet. Und der in Frankfurt lehrende Historiker meint damit nicht den durch den Nationalsozialismus verursachten tiefen Bruch im Selbstverständnis der Deutschen, die sich zudem lange Zeit vor allem als Kulturnation definiert hatte. Darin liegt auch ein großer Unterschied zu Frankreich und Großbritannien, die dezidiert aus ihrem historischen Verständnis politische Nationen sind. Das führt dazu, dass das Nationsverständnis unserer europäischen Nachbarn einen inklusiven Charakter hat, während das deutsche Verständnis von Nation so stark kulturell geprägt ist, dass es der Integration von Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund im Wege steht und exklusiv verstanden werden muss. Deutsche Landsleute mit Einwanderungsgeschichte können das nachvollziehen, wenn sie bisweilen gefragt werden, wo sie „eigentlich“ herkommen.
Fahrmeir bietet eine Erklärung an, warum das Thema Migration in Deutschland nicht nur zu solch emotionalen Debatten führt. Er schreibt mit Blick auf die Arbeitsmigration: „Die Frage, ob jemand deutsch war oder nicht, trat weit hinter seinen ökonomischen Aussichten zurück.“ Damit meint Fahrmeir aber nicht die Gastarbeiter des 20. Jahrhunderts, sondern die Einwanderungspolitik der preußischen Könige. Mit Blick auf die Bundesrepublik beschreibt er die Versäumnisse und Fehler deutscher Migrationspolitik. Und auch hier sind nicht das Jahr 2015 und die Flüchtlingskrise entscheidend, sondern die Versäumnisse der 1970er und 1980er Jahre, bei denen Fragen der Integration überhaupt nicht thematisiert wurden.
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beeinflussten außerdem biologistische und rassistische Denkmuster das exklusive Bild der Deutschen von ihrer eigenen Nation. Allein aufgrund der Migration im 20. Jahrhundert lässt sich dieses Verständnis nun nicht länger aufrechterhalten – zumal es im eklatanten Widerspruch zu den im Grundgesetz niedergeschriebenen Werten steht. Fahrmeir analysiert dabei nicht nur messerscharf, sondern weist den Weg, wie ein inklusives deutsches Nationsverständnis, das stärker die europäischen Traditionen einbezieht, aussehen könnte. Das Buch ist ein wirklich lesenswerter Denkanstoß.
Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, München 2020.
Eine Demokratie braucht gerade dann, wenn sie angegriffen wird, überzeugte Demokraten. Und ist die Demokratie als Idee nicht gerade in einer Verteidigungshaltung? Wer Hedwig Richters Buch liest, der wird immer wieder zu einem wohltuenden Perspektivwechsel gezwungen. Der Historikerin gelingt es zunächst, deutlich zu machen, dass die Demokratie eine unglaubliche Erfolgsgeschichte zu erzählen hat: Ein Geschichte des Rechts, der Einhegung von Gewalt, der gesellschaftlichen Emanzipation und der Freiheit, die nicht als Geschichte der Brüche, sondern als eine evolutionäre Geschichte erzählt werden kann – und dadurch vielleicht „versteckt“, wie spektakulär diese Erfolgsgeschichte eigentlich ist. Ihr Blick auf die Gesellschaft und staatliche Ordnung des Kaiserreichs unterscheidet sich dabei wohltuend von der leider noch zu häufig erzählten Geschichte des Kaiserreichs als ursächlich für das später folgende nationalsozialistische Regime.
Die Erinnerung daran, dass Geschichte eben doch nicht linear verläuft, und dass die deutsche Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts von einem Pluralismus bis dato ungekannter Partizipationsmöglichkeiten und sozialer Teilhabe geprägt war, lässt uns dank Richter anders auf das Kaiserreich blicken. Die Geschichte des Antisemitismus, des Rassismus und des Kolonialismus sowie der totalitären Ideologien kann man vor diesem Hintergrund auch als Abwehrreaktion auf den Erfolg der freiheitlichen Demokratie lesen. So war die Weimarer Republik eben keinesfalls ungeliebt und schon gar keine Demokratie ohne Demokraten. Das Finden einer gerechten Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg fiel gerade deshalb so schwer, weil der Frieden nach den Entbehrungen eine Sache des Volkes war und die handelnden Politiker die Stimmungen in den Gesellschaften in die Entscheidungen einbeziehen mussten. Ressentiments waren so am Verhandlungstisch viel schwieriger zu überwinden.
Richter gibt überzeugten Demokraten mit ihrem Spaziergang – so leicht und flüssig liest sich das Buch – durch die deutsche Demokratiegeschichte auf jeden Fall das Rüstzeug, um auch den aktuellen Herausforderungen eines erneut aufscheinenden Rechtsextremismus und den noch nicht abschätzbaren Folgen der Digitalisierung für demokratische Gesellschaften mit Zuversicht entgegenzutreten. Eine Welt, in der die Demokratie den Ton angibt, ist deshalb auch heute eine Idee, für die es sich zu streiten lohnt.
Ortwin Renn, Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt am Main 2014.
Nicht belehren, sondern aufklären: Anders gelingt es nicht, Menschen Ängste vor den falschen Dingen zu nehmen. Auf dieser Grundlage öffnet Ortwin Renn den Leserinnen und Lesern die Augen, um am Ende dem Ziel, unsere „Risikomündigkeit“ zu stärken, näherzukommen. Bei mir hat’s funktioniert. Ein wirklich lesenswertes Buch: Die Beispiele, die er beschreibt, machen nachdenklich. Vielleicht ist manch einer beim Lesen sogar peinlich berührt. Die Angst von modernen Technologien ist eines dieser Beispiele. Ob Handystrahlen oder Gentechnik: Die Debatte über die vermeintlichen Gefahren, die von der 5G Technologie ausgehen könnten, verstellt den Blick darauf, dass 2/3 der vorzeitigen Todesfälle auf Rauchen, Trinken, Ernährung oder mangelnde Bewegung zurückzuführen und damit individuell selbst verschuldet sind.
Ein idealisiertes Naturbild sowie die Verteuflung der chemischen Industrie tun ihr übriges. Die soziale Konstruktion unserer Wirklichkeit analysiert der Autor als eine der Ursachen für unsere permanente Fehleinschätzung von Risiken. Unsere kognitive Dissonanz führt dazu, dass wir in einer sich verändernden Lage oft dazu neigen, diese Veränderung zu ignorieren, abzuwehren und Informationen zu suchen, die es uns erleichtern, die bisherige Haltung beizubehalten und zudem die Glaubwürdigkeit der neuen Erkenntnisse zu diskreditieren. Die Rolle der Medien ist dabei kritisch zu sehen, denn oft schaffen Medien eine „dritte Form der Realität“, die uns nicht nur suggeriert, wir seien immun gegen eine entsprechende Beeinflussung. Die Art und Weise, wie Medien Informationen aufbereiten, erschwere es, so Renn, die richtige Einordnung und Bewertung der Informationen vorzunehmen.
Der von Renn skizzierte Ausweg umfasst einen Dreiklang an Maßnahmen, der bei unserem individuellen Verhalten beginnt, aber auch staatliche und gesellschaftliche Akteure in die Pflicht nimmt: Erstens ist Resilienz wichtiger als Effizienz. Unsere Systeme müssen nicht effizienter, sondern anpassungsfähiger werden. Die aktuelle Corona-Pandemie und die Struktur sowohl des Gesundheitssystems als auch die Bevorratung von Material (Schutzkleidung etc.) ist da wie ich finde ein gutes aktuelles Beispiel. Zweitens ist Gerechtigkeit wichtiger als optimale Allokation. Chancengleichheit muss deshalb die erste Priorität sein. Vom Abbau von Handelsschranken bis hin zur Regulierung von Top-Gehältern nennt Renn eine Zahl an Maßnahmen, die diesem Ziel dienen können. Drittens ist Lebensqualität wichtiger als der Lebensstandard. Das bedeutet, die Politik muss die „deliberative Demokratie“ und die Transformation hin zur „öko-sozialen Marktwirtschaft“ stärken. Den vielen Forderungen an die Adresse der Politik steht eine große Zahl an Maßnahmen gegenüber, bei denen wir als Bürgerinnen und Bürger gefragt sind: Auf der individuellen Ebene sollten wir unsere Konsummuster überprüfen und einen verbrauchsbewussteren Lebensstil entwickeln. Diese drei Schritte auf dem Weg zur Nachhaltigkeit sind entscheidend, um den wirklichen Gefahren, mit denen wir konfrontiert sind, zu begegnen.
Hans Rosling, Factfullness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Berlin 2018.
Kein Alarmismus. Endlich. Ich gestehe, ich bin die ganzen Weltuntergangsszenarien leid. Und ja: Die verkaufen sich gut und führen die Beststellerlisten immer wieder an. Aber ich frage mich: Wenn alles den Bach runtergeht, warum soll man dann noch ein Apfelbäumchen pflanzen und positiv bleiben? Wer das Buch von Hans Rosling gelesen hat, der wird keine rosa Brille aufsetzen, aber er wird verstehen, in welche Fallen wir mit unserem Blick auf die Welt oft laufen und warum wir doch viel mehr Anlass zur Zuversicht und Fortschrittsoptimismus haben sollten, als zu verzagen. Eines der Probleme ist, dass unser Wissen über die Welt nicht aktuell ist. Und unser Blick ist zu negativ. Dies führt laut Rosling zu „Megatrugschlüssen“ und es klingt nachvollziehbar, dass dann nur schwerlich die richtigen Probleme adressiert und gelöst werden können. Und dann erschlägt Rosling uns mit einer Fülle von Beispielen, die nachdenklich machen.
Die Weltbevölkerung wächst weiter und das wird zum Problem für den Planeten? Das ist so nicht richtig. Während 1965 durchschnittlich jede Frau fünf Kinder auf die Welt brachte, so liegt der Schnitt heute weltweit bei 2,5 Geburten pro Frau. Lediglich die ärmsten 10 Prozent bekommen noch fünf Kinder. Der Kampf gegen Hunger und Armut ist also die wirksamste Waffe gegen das Bevölkerungswachstum. Ähnlich daneben liegen wir bei der Frage nach der Lebenserwartung, die inzwischen weltweit bei über 70 Jahren liegt. Rosling bemüht das provokante Beispiel, dass solche Fragen im Schnitt von Schimpansen mit einer höheren Trefferwahrscheinlichkeit beantwortet werden, als von uns. Wir unterschätzen also chronisch den Fortschritt und die positiven Entwicklungen: So sind inzwischen 88 Prozent der Kinder gegen die schlimmsten Krankheiten geimpft, 85 Prozent aller Menschen haben Zugang zu Elektrizität und 90 Prozent aller Mädchen besuchen die Grundschule.
Wer jetzt denkt, dass ich Euch doch ein Buch unterjubeln will, das die Probleme der Welt negiert, der ist schief gewickelt. Rosling macht deutlich, was die Herausforderungen der Zukunft sind: Ende des Jahrhunderts werden 80 Prozent der Weltbevölkerung in Asien und Afrika leben. Das wird weitreichende Folgen für uns in Europa haben. Und wir werden beim Klimawandel endlich ehrlich darüber reden müssen, den CO2 Verbrauch pro Kopf zu betrachten und nicht nach Nationen. Man bekommt eine leise Ahnung, was das bedeutet. Auf jeden Fall ist es ein wirklich spannendes Buch.
Daron Acemoglu/James A. Robinson, Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut, Frankfurt am Main 2014.
Das Buch ist u.a. ein Plädoyer für die Idee der Europäischen Union, die aus Sicht der Autoren ein „Bollwerk für Frieden und Stabilität“ darstellt. Und dabei ist die Europäische Union gar keine Nation im eigentlichen Sinne. Aus Sicht der beiden Wirtschaftswissenschaftler verkörpert die EU aber alles, was erfolgreiche Nationen ausmacht. Und sie beschreiben anhand von historischen Beispielen, was den Aufstieg und den Fall von Nationen auslöst. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht dabei der Blick auf die Institutionen. Ihr Funktionieren ist dabei die Grundlage staatlichen Handelns. Ihre Ausrichtung und Struktur sorgen dafür, dass Nationen sich bei vergleichbaren Voraussetzungen unterschiedlich entwickeln. Diese Entwicklungen fassen Acemoglu und Robinson in jeweils einem Tugend- und einem Teufelskreis zusammen. Der Kern ihrer These ist, dass inklusive Institutionen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft die Grundlage für den Aufstieg und Erfolg von Nationen bilden – und dieser Aufstieg und Erfolg in dem Moment scheitert, wo die Institutionen extraktiv strukturiert werden. Mit dem Niedergang der Republik Venedig und den Cäsaren des Römischen Reiches schildern beide zudem anhand von Beispielen diese Entwicklung bildhaft und spannend.
Es mag nicht verwundern, dass die beiden Wirtschaftswissenschaftler dabei auch einen Schwerpunkt auf die ökonomischen Rahmenbedingungen legen. Die schöpferische Zerstörung von wirtschaftlicher Innovation und Fortschritt bzw. das Zulassen dieser, ist in ihrer Theorie daher eine wesentliche Säule für den Erfolg von Nationen. Deshalb musste das in der UdSSR generierte Wachstum in einem extraktiven System an ein Ende kommen und konnte den Fortbestand der Institutionen nicht sichern. Was diese These für China und sein Wirtschaftsmodell bedeutet, kann man erahnen, und man muss aufatmen, wenn man bedenkt, welche Richtung die Politik Trumps eingeschlagen hatte. Auf Dauer wäre Amerika so nicht „first“ geworden und erst recht nicht geblieben. Auch andere historische Beispiele zeigen, wie sehr die Angst vor Veränderung den Niedergang von Nationen beschleunigte: Im 19. Jahrhundert reagierten China, Rußland und Österreich-Ungarn mit einer Politik der Abschottung. Preußen hingegen orientierte sich nach der Niederlage an Frankreich und die preußischen Reformen – und hier nennen die Autoren vor allem das Bildungssystem – gelten bis heute als Grundlage für den Erfolg europäischer Staatlichkeit. Vor allem das Rechtsstaatsprinzip, das dafür sorgt, dass niemand über dem Gesetz steht, gilt als wichtiger Teil des Tugendkreises.
Die historischen Beispiele lesen sich spannend, die Übersetzung ins Heute liegt oft unausgesprochen auf der Hand und gerade mit Blick auf die eingangs erwähnte Europäische Union muss man festhalten, dass sich diese bei allen Krisen und Herausforderungen immer wieder als erstaunlich reformfähig erwiesen hat. Das Buch ist also auch ein Plädoyer für Mut und Zukunfts- sowie Fortschrittsoptimismus sowie ein Bekenntnis zu Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit sowie marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Prinzipien als Grundlage für den Erfolg von Nationen in einer globalisierten Welt. Ein Plädoyer, das gute Argumente für viele politischen Debatten in die Hand gibt.
Vielen Dank für die wertvollen Hinweise und Empfehlungen. Ich glaube ganz bestimmt, dass diese Lektüre uns allen gut tut.