Das Geschenk des Lebens
Am Totensonntag: Gedanken zum Tod meines Vaters
Viele Menschen werden diesem Jahr nicht nachtrauern, wenn es sich bald verabschiedet: Krieg in der Ukraine, Terror in Israel, Klimakatastrophe, Inflation und wirtschaftlicher Abschwung, eine Koalition in Berlin, die sich – so zumindest der Eindruck – oft mehr mit sich selbst als mit den Problemen des Landes beschäftigt, Hass im Netz, eine neue Partei von Sarah Wagenknecht, eine neue Flüchtlingskrise, Rechtsextremismus auf der einen und einen vor allem in manchen migrantischen Milieus offen zur Schau gestellter Antisemitismus auf der anderen Seite. Die Reihe lässt sich fortsetzen. Und viele Menschen beklagen persönliche Schicksalsschläge. Ein Scheitern, den Verlust des Arbeitsplatzes, das Zerplatzen eines Traums, eine Trennung oder den Tod eines geliebten Menschen.
Wenn ich jetzt zurückschaue, dann kann ich trotz mancher Herausforderungen in den Jahren zuvor doch sagen: Das war für mich kein leichtes, vielleicht sogar mein schwerstes Jahr. Ich habe Abschied nehmen müssen. Innerhalb von nur drei Monaten sind meine Eltern gestorben. Meine Mutter war schon lange herzkrank. Dann kam eine Coronainfektion, ein weiterer Herzinfarkt und am Ende reichte ihre Kraft nicht mehr. Sie starb nach mehreren Wochen im Krankenhaus. Wir waren jeden Tag bei ihr gewesen, hatten gehofft, sogar schon nach einem Platz für eine Reha gesucht. Vergebens. Zwei Tage nach ihrer Beerdigung mussten wir meinen Vater mit dem Notarzt ins Krankenhaus bringen. Die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es ging ihm in den Wochen zuvor schon nicht gut, aber die Sorge um meine Mutter überlagerte das. Mein Vater hatte erst vor gut vier Jahren den Speiseröhrenkrebs nach einer schweren Operation überstanden. Nun diese Nachricht.
Die Ärzte machten ihm und uns falsche Hoffnungen. Mit einer palliativen Chemotherapie könne er bei guter Lebensqualität noch ein Jahr haben. Vielleicht sogar ein paar Monate mehr. Nur unser Hausarzt war ehrlich. Nach dem Überstehen des Speiseröhrenkrebs sei jeder Monat ein Geschenk gewesen. Nun werde es wohl sehr schnell gehen. Wollten wir das wirklich hören? Am Ende behielt recht. Keine zwölf Wochen später war auch mein Vater gestorben. Wenige Tage vor seinem 81. Geburtstag.
Was soll man nun denken? Viele Menschen haben mir Mut und Kraft zu gesprochen. Vor allem solche, die selbst schon ihre Eltern verloren hatten. Jemand sagte nach dem Tode meiner Mutter wissend um die Erkrankung meines Vaters zu mir: „Wenn Dein Vater gestorben ist, dann bist Du kein Kind mehr.“ So ist es. Und dieser Satz ist mehr als eine Binsenweisheit. Darin liegt viel. Man verliert etwas unwiederbringlich. Und es ist durch nichts zu ersetzen. Sicherheit, behütet sein, Gewissheit. Man wird sich dessen erst bewusst, wenn es passiert ist. Vorher bleibt es unverständlich.
Meine Geschwister und ich wollten meinen Vater bis zum Schluss begleiten. Wir haben nicht nur von ihm, sondern auch von mancher romantisierten Vorstellung in diesem Zusammenhang Abschied nehmen müssen. Zwar gab es noch diese Momente, die man sich vorstellt vor einem endgültigen Abschied. Doch es waren wenige. Einmal nahm mein Vater seine ganze Kraft zusammen, zog sich schick an, rasierte sich selbst, um mit uns etwas zu besprechen, was ihm wichtig war. Einmal fuhren wir noch zu den Vier Fichten, einen Ort im Büdinger Wald, den er sehr mochte. Das war aber die Ausnahme. Der Tag war von medizinischen Fragen und Fragen der Pflege dominiert.
Wir erzählen uns diese schönen wenigen Momente. Über die anderen sprechen wir nicht so oft. Ich wollte als Sohn für meinen Vater da sein. Und doch war ich von Tag zu Tag weniger Sohn und mehr Pflegekraft. Und je mehr Hilfe er bedurfte, desto hilfloser fühlte ich mich. Hilflos, weil man sich auf eine solche Situation nicht vorbereiten kann, nicht gelernt hat, damit umzugehen. Das gilt für Gefühle genauso wie für den richtigen Handgriff, um dem eigenen Vater in den Dingen des Alltags zu helfen. Einmal stürzte er, verletzte sich. Auch bei der Tageshygiene brauchte er Unterstützung. Die Hilfsbedürftigkeit eines Mannes, der über 80 Jahre die Instanz war, die sich im Zweifel schützend vor mich stellte und immer da war, schmerzt. So war es bei mir. Und meine Hilflosigkeit daran etwas zu ändern, schmerzte noch mehr. Ich konnte da sein. Mehr nicht. War das genug? Er sagte einmal zu uns, wir hätten alles richtig gemacht. Mir das selbst zuzusprechen und diesen Satz anzunehmen, war und ist nicht leicht.
Es war wohl in der Tat ein Segen, dass wir da waren. Keine Frage. Ich habe in der Regel die „Nachtwache“ übernommen. Meine Schwester war tagsüber bei ihm und wachte über die Einnahme der Medikamente und war die kompetente Ansprechpartnerin für ihn, wenn er sich unwohl fühlte. Da wusste sie aufgrund ihrer eigenen chronischen Erkrankung, wovon sie redete. Und mein Bruder war einfach eine Bank, wenn es um die notwendigen Dinge des Alltags ging. Schnell zur Apotheke? Noch kurz etwas zur Post bringen? Einkaufen? Kochen? Und auch er war tagsüber ständig präsent. Uns selbst war das nicht bewusst, aber wir bekamen in diesen gut 10 Wochen immer zu hören, wie besonders das war, was für uns selbstverständlich blieb.
Nach zehn Wochen war unsere Kraft aufgebraucht. Wir konnten meinem Vater nicht mehr helfen. Wir brauchten selbst Hilfe und zum Glück haben wir uns das am Ende gegenseitig zugestanden. Ich für mich hätte mir das nur schwer eingestehen können. Unser Hausarzt half uns dann. Mein Vater bekam ein Zimmer in der Palliativstation des Krankenhauses in Schlüchtern. Der Moment, als er das letzte Mal seine Wohnung verließ, den erinnere ich noch. Was sich so endlos traurig anhört, war ein gefühlt ganz notwendiger Gang. Das Zuhause war nicht mehr der richtige Ort. Mein Vater lebte dort in seiner neuen Bleibe noch fast drei Wochen.
Wie soll man diesen Ort, an dem ich seit seinem Umzug dorthin jeden Tag war, beschreiben? Es ist ein Ort, der das Leben wertschätzt und würdigt.
Als wir ankamen mussten wir nicht klingeln. Durch die Glastür hatte eine Schwester uns gesehen. „Willkommen Herr Dr. Tauber“, wurde mein Vater begrüßt. Und wir auch. Mein Vater erfuhr nicht nur eine professionelle Betreuung, die nichts zu wünschen übrigließ. Wir waren wieder seine Kinder und mussten keine Pflegedienste tun. Wir konnten Abschied nehmen. Und einfach bei ihm sein, mit ihm sprechen und gemeinsam fernsehen. Oder im „Wohnzimmer“, dem Raum für die Angehörigen, sitzen und einen Kaffee trinken. ich saß oft da. Das Vertrauen, dass er hier gut aufgehoben war, machte den Abschied leichter.
Der Ort und die Menschen, die dort arbeiten, ließen meinem Vater bis zum Schluss die Möglichkeit, selbstbestimmt zu entscheiden. Die Pflegekräfte, Ärztinnen, die Musiktherapeutin, der Psychologe oder seine Pfarrerin waren da, wenn er das wollte. Einmal hatte ich etwas liegen lassen und musste vom Parkplatz noch einmal zurück ins Zimmer. Da saß eine Schwester an seinem Bett und hielt seine Hand. Das erlaubte er übrigens nicht jeder Schwester. Aber diese hatte er offenbar ins Herz geschlossen. Ich fragte erschrocken, was los sei. „Ach ich habe mich zu ihm gesetzt, damit er noch etwas Gesellschaft hat“, war die Antwort. Über dieser Palliativstation liegt ein Segen. Man kann das nicht mit Geld aufwiegen, was hier getan wird. Welcher Wert hier dem Ende beigemessen wird. Ein Ende mit Würde. Mit Respekt. Soweit es irgend geht, selbstbestimmt und das gelebte Leben wertschätzend.
Ich habe erst in diesen Tagen verstanden, dass der Mann, der da stirbt, viel mehr war als mein Vater. Und vielleicht war das besonders schwer: Ihn am Ende noch einmal ganz Dr. Manfred Tauber sein zu lassen. Er wollte ein paar Dinge mit sich selbst und dem lieben Gott ausmachen. Matthias Claudius hat in seinem Gedicht „Am Grabe meines Vaters“ geschrieben: „Ach sie haben einen guten Mann begraben. Doch mir war er mehr.“ In der Tat bedeutete er mir sicher mehr als seinen Freunden und Geschäftspartner, aber zugleich war er mehr als nur mein Vater.
Auch auf der Palliativstation ist er als Persönlichkeit wahrgenommen worden und nicht nur als ein sterbender Mensch. Das ist mir noch einmal deutlich geworden, als meine Geschwister und ich vor einigen Tagen noch einmal dort waren. Alle vier Monate wird dort in einer kleinen Feier mit Gebeten und Liedern der Verstorbenen gedacht. Für mich waren diese letzten Tage von besonderem Wert. Ein Ort, der dem Leben mit so viel Aufmerksamkeit und Wertschätzung begegnet, den gibt es nicht so oft. Und dies, wo es doch ein Ort ist, an dem dieses Leben, unser wertvollstes Geschenk, endet. Darüber denke ich viel nach.
Es ist manchmal erschreckend, wie schnell einem die Hektik des Alltags wieder einholt. Dennoch schaue ich nun anders auf viele Dinge. Oft genug denke ich aber nach einem beruflichen Termin noch, dass ich jetzt gerne wissen würde, was er denkt. Wenn ich ihn früher anrief, dann wusste ich oft schon, was er mir raten würde. Und doch ist das jetzt anders. Seine Rufnummer ist noch in meinem Kurzwahlspeicher. Er wird nicht rangehen, sollte ich anrufen. Aber ich glaube an ein Wiedersehen.