Auf dem Weg zur Europäischen Verteidigungsunion
Wenn ich an Europa denke, dann denke ich an einen älteren Herrn. Dieser stand im Publikum auf, als ich vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung in Magdeburg über den europäischen Binnenmarkt und Freihandel diskutierte. Mit fester Stimme zitierte er ein paar Zeilen aus einem Lied: „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen, sterben wie ein tapfrer Held.“ Wir heute können mit diesen Zeilen nichts mehr anfangen. In den 1920er und 30er Jahren kannte jedes Kind dieses Lied; auch der alte Mann hatte es als kleiner Bub lernen müssen. Und in Frankreich und Großbritannien sangen die Kinder vergleichbare Lieder über uns Deutsche. Sein kraftvoller Appell an mich und die anderen Gäste: „Sorgen Sie dafür, dass Kinder in Europa nie wieder solche Lieder lernen müssen.“
Europa war über Jahrhunderte ein blutdurchtränkter Kontinent. Es grenzt nahezu an ein Wunder, dass aus den sogenannten „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich Partner und Freunde werden konnten, die heute gemeinsam die europäische Einigung vorantreiben. Die Europäische Union ist – bei allen Defiziten, über die sich trefflich streiten lässt – eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Europa ist ein Ort der Freiheit, des Friedens, des Wohlstands – und damit für viele Menschen auf der Erde ein Sehnsuchtsort. Auch diese historische Dimension sollten die Bürgerinnen und Bürger vor Augen haben, wenn sie am 26. Mai ein neues Europäisches Parlament wählen. Es geht in den kommenden Jahren darum, Europa stärker zu machen – insbesondere auch angesichts einer massiv veränderten Sicherheitslage um uns herum.
Europa steht enormen Herausforderungen gegenüber, von außen und von innen. Nur gemeinsam können wir die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger gewährleisten, unsere Interessen auf Dauer wahren und mehr internationale Verantwortung übernehmen. Unser Ziel als Deutschland ist eine noch handlungsfähigere EU, die mit einer Stimme spricht. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist das leider oft genug noch nicht der Fall. So gibt es in der EU beispielsweise 17 verschiedene Panzertypen, wohingegen die USA nur einen haben. Eine solche Fragmentierung können wir uns nicht länger leisten. Wir haben deshalb damit begonnen, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU auf eine neue Ebene zu heben.
Wir wollen als Europäer schneller entscheiden und reagieren, effektiver handeln und unsere zivilen und militärischen Instrumente besser verzahnen. Hierzu haben wir ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht – von der Verteidigungsplanung bis zum Einsatz. Das Herzstück, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit – auf Englisch: PESCO –, bildet einen politischen Rahmen für die Vertiefung der Verteidigungszusammenarbeit. Erstmals haben sich 25 EU-Mitgliedstaaten auf gemeinsame sicherheitspolitische Projekte verständigt. Zur Erfüllung werden konkrete Kooperationen umgesetzt. Es geht beispielsweise darum, die schnelle Verlegung von militärischen Kräften über Ländergrenzen hinweg im Bündnis sicherzustellen; man nennt das „military mobility“. Die zweite Säule ist, dass wir künftig Fähigkeitslücken unserer Streitkräfte gemeinsam identifizieren und schließen. Und mit der dritten Säule, dem Europäischen Verteidigungsfonds, wollen wir die notwendigen finanziellen Anreize für mehr europäische Kooperation und technologische Innovation im Verteidigungsbereich schaffen, also bei der Forschung und der Beschaffung. Damit stärken wir die EU, und damit den europäischen Pfeiler innerhalb des transatlantischen Bündnisses.
All das tun wir auch, um die strategische Autonomie Europas zu stärken. Das bedeutet aber keinesfalls gänzliche Unabhängigkeit, sondern die Fähigkeit zu handeln, wenn europäisches Handeln notwendig ist. Die EU muss ein außen- und sicherheitspolitisch eigenständiger und handlungsfähiger Akteur in Ergänzung zur NATO sein, um Sicherheit und Stabilität für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Die wachsende Verantwortung der Europäer in der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft ist in unserem Interesse. In einem Satz: Wir müssen transatlantisch bleiben und europäischer werden. Und auch dafür sollten wir in den nächsten Tagen noch offensiv werben.
(Foto: Tobias Koch)