Erstaufnahme von Flüchtlingen in Büdingen – ein Besuch
Im Oktober 2015 war ich ein Wochenende lang freiwillig als Helfer in einer Flüchtlingseinrichtung in Offenbach im Einsatz. Über meine Erfahrungen, die selbstverständlich keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, sondern meine subjektive Gefühlslage widerspiegeln, habe ich ausführlich auf meinem Blog berichtet; nachzulesen hier, hier und hier. 17.203 Flüchtlinge wurden im Oktober 2015 in Hessen registriert; nur im November 2015 waren es mehr (19.041).
Nicht nur die Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung zu uns gekommen sind, haben damals Grenzen überschritten; auch die unzähligen Helfer in den Flüchtlingseinrichtungen haben das getan – wenn auch „nur“ im sprichwörtlichen Sinne. Ich war – und bin es immer noch – beeindruckt, wie sehr die Mitarbeiter der Hilfsdienste, die Kameraden der Bundeswehr, die vielen freiwilligen Helfer, aber auch die Mitarbeiter in der Verwaltung landauf, landab in den vergangenen Monaten über sich hinausgewachsen sind. An dieser Stelle sei auch die Frage erlaubt, was aus all den Kassandra-Rufern von damals geworden ist? Ihre Schwarzmalerei zielte ins Leere: Bis heute stellen Zivilgesellschaft und Verwaltung die Leistungsfähigkeit unseres Landes eindrucksvoll unter Beweis. Darauf können alle Beteiligten, darauf kann unser Land stolz sein.
Wenn ich an diese zwei Tage in Offenbach zurückdenke, kommen mir die Begegnungen mit den Menschen in den Sinn, kurze Gespräche, ein dankbarer Blick. Aber auch die räumliche Enge in der Unterkunft, der Geruch der entsteht, wenn viele Menschen auf engem Raum zusammenleben; Väter und Mütter, die versuchen ihren Familien mit Hilfe von Bettlaken wenigstens einen Hauch von gefühlter Privatsphäre zu schaffen.
Vor wenigen Tagen habe ich wieder eine Flüchtlingsunterkunft besucht; diesmal als Gast. In der Büdinger Erstaufnahmeeinrichtung, einer Außenstelle der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen und früher Stützpunkt der US-Army, finden 800 Menschen Platz – in der Theorie, denn derzeit ist nicht einmal die Hälfte der Plätze in der Einrichtung belegt. Im Dezember kamen 12.000 Menschen nach Hessen, im Januar waren es 7000 – Tendenz sinkend. Momentan werden pro Tag durchschnittlich nur noch knapp 100 Neuankömmlinge erfasst – bundesweit, wohlgemerkt.
Regierungspräsident Dr. Christoph Ullrich und Heiko Merz, kommissarischer Leiter der EA Büdingen, führen mich gemeinsam mit einigen Kollegen sowie mit Vertretern der Hilfsdienste über das Gelände. Ich werfe einen Blick in die ehemalige Turnhalle der GIs, in der sich heute der Speisesaal befindet. Noch liefert ein Caterer das fertige Essen; in wenigen Wochen, wenn der Umbau der Küche im Nachbargebäude fertig gestellt ist, sollen die Mahlzeiten frisch vor Ort zubereitet werden.
Im hinteren Teil des Saals stehen einige Stuhlreihen in Reih und Glied; hier finden regelmäßig Informationsveranstaltungen zum Thema Grundrechte und Wertevermittlung statt, die sehr gut angenommen werden, wie mir der Regierungspräsident berichtet. Auch Präventionsmaßnahmen zu den Themen Salafismus oder Rechtsradikalismus stehen auf dem Programm und – Dank der Unterstützung der Büdinger Ehrenamtsagentur – Deutschkurse, wenn auch auf niedrigem Level, weil die Flüchtlinge nur kurze Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung verweilen. „Registrieren, untersuchen, Antrag stellen, weiterleiten“, fasst Dr. Ullrich das Prinzip zusammen. Mindestens sechs Wochen, aber maximal sechs Monate verbringen die Flüchtlinge hier. Dann geht es weiter in die Kommunen.
Seitdem die Balkanstaaten Ende vergangenen Jahres zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden und die Länder konsequenter abschieben, ist die Zahl der freiwilligen Ausreisen rapide angestiegen. Die Menschen wollen sich die Möglichkeit einer legalen Wiedereinreise mit einem regulären Arbeitsvisum nicht verbauen. Im Fall einer freiwilligen Ausreise zahlt der deutsche Staat das Rückflugticket; auch das angesparte Taschengeld darf mit nach Hause genommen werden; ebenso wie ein zusätzlicher Koffer mit persönlichen Habseligkeiten.
Die Kosten einer Abschiebung hingegen tragen die Betroffenen selbst, hinzu kommt eine zehnjährige Sperrfrist für eine Rückkehr nach Deutschland.
Ich werfe einen Blick in die „Krankenstation“, momentan noch ein recht karges Untersuchungszimmer, das dennoch mit allem notwendigen medizinischen Equipment ausgestattet ist. „Wir haben hier keine Probleme. Auch die Männer lassen sich anstandslos von mir untersuchen“, berichtet mir die diensthabende Ärztin, die eigentlich Gynäkologin ist. „Das hier mache ich in meiner Freizeit, quasi zum Spaß“, sagt sie und strahlt dabei so eine Freude und innere Gelassenheit aus, dass ich ihr spontan für Ihren Dienst danke. Während wir uns unterhalten, sitzen draußen auf dem Flur Männer, Frauen und Kinder bunt gemischt und unterhalten sich. „Manche kommen auch einfach vorbei, weil sie ein Schwätzchen mit den Ärzten oder den Helferinnen halten wollen“, erfahre ich. Das kommt mir bekannt vor, wenn ich an meine Wartezimmererlebnisse in Gelnhausen oder anderswo denke.
Wie die Flüchtlinge untergebracht werden, sehe ich nur wenige Meter weiter: Ein quadratischer Raum, darin zwei Stockbetten, ein Spind pro Person, ein Tisch, vier Stühle, darauf Teller, Besteck und vier Trinkbecher. Und das Wichtigste nicht zu vergessen: Ruhe. Frieden.
Bei unserem Rundgang durch die Anlage berichten mir Heiko Merz und seine Kollegen viel aus ihrem Berufsalltag. Ich erfahre, wo es hakt, wo wir noch besser werden können, wo die Politik nachsteuern oder ganz neue Lösungen finden muss. Der Deutsche an sich verwaltet gerne und sehr gut. In den vergangenen Monaten haben wir gelernt, das Auge an der einen oder anderen Stelle zuzudrücken. Unbürokratisches Handeln war gefragt. Mittlerweile wiehert der Amtsschimmel wieder häufiger – ein Zeichen, dass es aufwärts geht, wenn man so will. Dennoch: ein gutes Stück dieser neu erlernten Flexibilität sollten wir uns für die Zukunft bewahren, unserem Land hat genau das in den vergangenen Monaten an vielen Stellen gut getan. Und ich sehe wie gut wir – und damit meine ich ausdrücklich all die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Einsatzkräfte vor Ort – schon sind. Ein Mitarbeiter der Malteser berichtet mir von der großen inneren Zufriedenheit, die er aus seiner Arbeit zieht, allem Stress zum Trotz.
„Das Land versinkt im Chaos, alles bricht zusammen, die Verwaltungen kollabieren.“ Wie oft habe ich diesen Satz von Oktober bis Dezember 2015 gehört. Die Wahrheit ist: Nichts von alledem ist passiert. Konsequenterweise sind viele negativen Stimmen inzwischen nahezu verstummt. Doch natürlich gibt es immer Menschen, die sich neue vermeintliche Risiken suchen, an denen wir angeblich scheitern werden. So ist das eben im Leben: Die einen packen an, die anderen sind ins Scheitern verliebt. Doch durch das bloße Beschreiben von Problemen löst man kein einziges davon.
Ja, hinter uns liegen schwere, anstrengende Monate. Weder die Flüchtlingskrise, noch die damit verbundenen Konsequenzen werden sich in absehbarer Zeit in Luft auflösen. 60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht, Terroranschläge halten die Welt in Atem. Auch der Klimawandel und die daraus resultierenden Wanderungsbewegungen werden uns in Zukunft vor neue Herausforderungen stellen. Und doch hat mir dieser Besuch in Büdingen einmal mehr gezeigt: Es gibt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Deutschland ist ein reiches Land. Reich an Menschen, die dieses Land durch ihren unermüdlichen Einsatz zu dem machen, was es heute ist. Menschen, die – egal, ob sie einer Kirche angehören oder nicht – den Begriffen „christliche Nächstenliebe“ und „Barmherzigkeit“ ein Gesicht geben. Die auf unterschiedlichste Art und Weise und jeder an seinem Platz ihren Dienst für unser Land und alle, die hier in Frieden leben wollen, tun.
Mein tiefempfundener Dank geht an all diese stillen Helden.