Misericordias Domini – Laienpredigt von Peter Tauber in Langendiebach
Predigt zu Johannes, 10.
Liebe Gemeinde, liebe Brüder und Schwestern,
Jesus als der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe gibt. Dieses Bild ist uns vertraut. Es berührt uns, es beruhigt uns. Es gibt wesentliche Elemente unseres Glaubens wieder, beginnend mit der christlichen Nächstenliebe. Die Bereitschaft, sich zu opfern, für andere einzustehen, zu helfen – ohne gleich zu fragen, welchen Nutzen ich davon habe.
Jesus redet aber nicht nur von sich selbst. Er meint damit auch Vater und Mutter, die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. Oder vielleicht den Unternehmer, der auch in der Krise seine Mitarbeiter nicht entlässt. Oder Bürger, die bereit sind, mehr zu tun für unser Land, als nur ihre Steuern zu zahlen – indem sie sich ehrenamtlich engagieren.
Auf der einen Seite also Jesus, der für uns alle als Hirte geworden ist und auf der anderen Seite die vielen guten Hirten, die uns täglich begegnen, wenn wir nur hinschauen. Halt! Ist das wirklich ein Unterschied? Leben diese Menschen von denen ich gerade sprach nicht wissentlich oder unwissentlich nach dem Vorbild Jesu? Werden sie seinem Bilde nicht gerecht? Ganz unspektakulär, ohne dass es große Schlagzeilen gibt oder alle Welt staunend innehält. Ich glaube schon. Sie begegnen uns nämlich täglich, die guten Hirten. Das ist doch eine beruhigende Botschaft.
So „bequem“ wie sie auf den ersten Blick wirkt, ist die Geschichte aber nicht. Nur auf den ersten Blick geht es um die Geborgenheit, die wir als Schafe finden. Denn Jesus spricht nicht nur von der wunderbaren und sorgenfrei machenden Aufgabe des Hirten, die dazu führt, dass die Schafe beruhigt schlafen können. Er spricht auch von dem Mietling, der kein guter Hirte sein könne.
Wer fühlt sich da angesprochen? An wen denken wir dabei? An den Hedgefonds-Manager, der nur auf die Zahlen schaut und dem die Betriebe, die er kauft und verkauft und die dort arbeitenden Menschen egal sind? Die Mutter, die mit der knapp bemessenen Sozialhilfe vorrangig den eigenen Bedarf bedient und nicht mit der notwendigen Sorgfalt auf die ihr anvertrauten Kinder achtet? Der Jugendbetreuer, der seine pädophilen Neigungen an seinen Schützlingen unbemerkt von anderen befriedigt? All diese Menschen würden wir sicherlich als der Aufgabe des guten Hirten nicht gewachsen beschreiben.
Und damit sind wir bei einer für mich besonders wichtigen Aussage dieser Bibelstelle. Jesus ist das gute Beispiel, ja mehr noch, er nimmt die Aufgabe des guten Hirten bis zur letzten Konsequenz an und gibt sogar sein Leben für die Schafe. Für Martin Luther markiert das den zentralen Unterschied. Luther sagt dazu: „Christus allein (ist) der rechte Hirte, der für seine Schafe stirbt, und sonst niemand. Denn zu diesem Werk, darum Christus für uns stirbt, ist kein Mensch tüchtig gewesen, dass er den Menschen hätte frei machen können. Dieses ist dieses Hirten Werk, dass ihm niemand nachtun kann.“
Jesus hat hier – um es modern zu formulieren – ein Alleinstellungsmerkmal. Ihm in der Rolle des guten Hirten bis zur letzten Konsequenz nachfolgen zu wollen, hält Luther für unmöglich und er hat sicherlich recht. Wie passt das zusammen, wenn wir eben noch gehört haben, dass Jesus uns Vorbild sein will? Hat Luther also unrecht? Nein. Er macht nur den Unterschied deutlich. Wir können nicht wie Jesus die „Sünd der Welt“ tragen. Aber Jesus formuliert dennoch einen Anspruch! Der Beliebigkeit des „Mietlings“, der bei den ersten Problemen die Segel streicht, davonläuft, erteilt er eine deutliche Absage.
Luther hat das erkannt und erklärt Jesus zum Vorbild für uns: „So wie Christus für uns gestorben ist, dass er uns errette durch sein ei-gen Werk, ohne unser Zutun, von Sünden und ewigen Tod: also sollen wir auch einer dem anderen dienen.“ Das ist es also, worum es Jesus für uns geht: um Verantwortung – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Und Verantwortung, dass kann eine große Bürde sein, unter der Menschen schwer tragen, ja verzweifeln, sogar zusammenbrechen.
Wer trägt Verantwortung als Hirte für die Schafe? Mir kommen zwei Gedanken in den Sinn: Wer würde sich hier freiwillig in die Rolle des Schafes fügen? Wohl niemand. Es entspricht nicht unserem Selbstverständnis. Wir wollen selbst frei entscheiden, was für uns gut ist. Wir wollen selbst Verantwortung für uns übernehmen. Ein selbstbestimmtes Leben führen, das ist unser Ziel. Alle Möglichkeiten sollen uns offen stehen – beruflich aber auch privat.
Doch ist das wirklich so? Ist es gut so? Gerade in schwierigen Situationen wünschen wir uns da nicht doch zumindest heimlich in die Rolle des Schafes? Rufen wir dann nicht nach jemandem, der uns diese Verantwortung für uns selbst abnimmt? Sind dann an der eigenen Situation nicht allzu oft Andere schuld?
Übertragen auf die Politik wird daraus die Frage, welchen Staat wir wollen. Wollen wir einen paternalistischen Staat, der uns führt und leitet, uns Verantwortung abnimmt, für uns sorgt, uns aber auch vorschreibt, was gut für uns ist und für uns entscheidet? Oder wollen wir einen Staat, der uns Freiräume eröffnet? Der uns Chancen gibt, aber uns bei Schwierigkeiten nicht alleine lässt?
Und wie ist das mit den Mietlingen in unserer Gesellschaft, denen sich viele Menschen hilflos ausgeliefert fühlen? Wie kommt es, dass viele Menschen unseren Staat als nicht mehr gerecht empfinden – und das, obwohl wir noch nie vorher so viel Geld für den Sozialstaat ausgegeben haben wie derzeit?
Es ist wahr: viele Menschen spüren in unserem Land eine gewisse Ohnmacht. Wir verlieren uns in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Naturkatastrophen, von Menschen gemachte Katastrophen und Kriege wie in Fukushima und Libyen oder schwierige politische Entscheidungen von der Euro-Rettung bis hin zum Sparpaket.
Ganz oft höre ich Sätze wie: „Was die da oben entscheiden, darauf habe ich doch eh keinen Einfluss.“ oder „Die wissen doch gar nicht mehr, wie das normale Leben aussieht und sind total abgehoben.“ Es mangelt am Vertrauen in die guten Hirten. Die Menschen haben – um im Bild zu bleiben – Angst, dass ihr Schicksal Mietlingen anvertraut ist.
Ich persönlich empfinde diese Sorge als oft nicht begründet – das sage ich ganz offen. Ich erlebe nicht nur in Berlin, sondern auch in Wiesbaden oder hier bei uns im Main-Kinzig-Kreis viele Menschen, die politische Verantwortung haben, die im wahrsten Sinne des Wortes schwer daran tragen.
Wahrscheinlich ist es dies, was jede öffentliche Persönlichkeit, jeder öffentliche Diener – jeder Politiker, Pfarrer, Lehrer, Arzt und Unternehmer – kennt: Ein guter Hirte zu sein, ist eine schwere Last, es ist der Preis für ein Amt und eine Aufgabe, die Gott uns anvertraut hat. Es ist ein Gefühl, dass jeder kennt, der für andere Verantwortung übernommen hat!
Mir persönlich hilft mein Glaube bei dieser Aufgabe. Bismarck hat das einmal etwas provokant so formuliert: „Gott hilft mir tragen, und mit Ihm bin ich der Sache besser gewachsen als die meisten unserer Politiker ohne Ihn. Ich werde mein Amt tun; dass Gott mir den Verstand dazu gibt, ist Seine Sache.“
Der Satz ist deswegen spannend, weil er darauf verweist, dass wir als Hirten immer auch Gott verpflichtet sind. Denn manchmal muss der Hirte den Schafen den Weg zur vermeintlich grünen Weide verweigern, wenn der Strom, den es auf dem Weg zu überqueren gilt, reißend und gefährlich ist. Die Aufgabe des Hirten, die Schafe vor Unheil zu bewahren, stößt selbst bei den Schafen nicht immer auf Verständnis.
Das meint keineswegs nur das Verhältnis von Politikern und Bürgern. Das gilt genauso für die Mutter, die fürsorglich ihre Kinder begleitet und auch einmal Grenzen aufzeigt. Dies gilt für den Meister, der seinem Lehrling etwas zumutet, für den Trainer der seiner Mannschaft im Training etwas abverlangt. Wir Menschen sind so, dass wir manchmal auch jemanden brauchen, der uns den Kopf zurechtrückt, uns an das Wesentliche erinnert. Auch diese Aufgaben übernimmt Jesus für uns als guter Hirte. Jesus wendet sich an alle Christen, egal welche Stellung sie innehaben!
Dies führt zu der Frage, ob das immer so klar zu trennen ist, ob wir Schafe oder Hirten sind. Und es führt weiter zu der Frage, ob wir Hirten oder Mietlinge sind, wenn wir in Verantwortung für andere stehen. So klar werden wir das wohl nicht definieren können. Keiner ist ganz „guter Hirte“ und niemand ganz „Mietling“. Und – Gott sei Dank – das ist auch nicht ein für allemal festgelegt. Wir können uns ändern und wir stehen jeden Morgen neu vor der Entscheidung, was wir sein wollen und können. Das ist gut!
Und dann fällt mir noch etwas auf: in den Medien, aber leider auch in unseren tagtäglichen Gesprächen in der Familie und mit Freunden geht es doch meist um das Schlechte in der Welt. Wer hat wen verlassen, wer ist wo betrogen worden, hat seinen Arbeitsplatz verloren, hat seine Kinder geschlagen oder ist mit der Vereinskasse durchgebrannt.
Viel zu selten erzählen wir von den bemerkenswerten Dingen, von den „guten Hirten“ die uns tagtäglich begegnen. Jesus hat uns immer wieder dazu aufgefordert, im nachzufolgen. Wir als Christen sind trotz unserer Unzulänglichkeiten bemüht, seinem Beispiel zu folgen, weil wir der Überzeugung sind, dass dadurch unsere Welt ein bisschen gerechter und menschlicher wird.
Wenn wir andere ermutigen wollen, selbst Hirten zu sein, dann sollten wir ihnen von den guten Beispielen erzählen. Wenn wir dabei gleich mit Jesus beginnen, dann schreckt das vielleicht ab – Menschen, die nicht zu ihm gefunden haben, aber auch Brüder und Schwestern, die dieses Vorbild für unerreichbar halten. Reden wir doch von den guten Hirten in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Familie – und irgendwann werden wir zwangsläufig darauf zu sprechen kommen, dass es einen guten Hirten gibt, der sich um uns alle sorgt.
Ich will von zwei dieser guten Hirten berichten, von denen ich viele kennenlernen durfte: Günter Rams und Michael Frischkorn verbindet auf den ersten Blick nicht sonderlich viel miteinander. Der eine ist überzeugter Christdemokrat, der andere eingefleischter Sozi. Doch beide haben etwas getan, was sie von vielen anderen unterscheidet. Sie haben nicht nur über Not und Armut in der Gesellschaft geredet. Sie haben gemeinsam angepackt. Beide haben die Gelnhäuser Tafel gegründet und damit eine Institution im mittleren Kinzigtal geschaffen, die täglich Zeugnis ablegt von dem, was man echten Bürgergeist nennen kann und muss. Männer und Frauen, denen es gut geht, helfen und übernehmen Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft. Sie tun dies auf eine Art und Weise, die mit den Worten christliche Nächstenliebe und Menschlichkeit wunderbar umschrieben ist. Und es ist schwer vorstellbar, dass der Staat sich diesen Menschen so individuell und einfühlsam nähern kann, wie es die fleißigen Helfer der Gelnhäuser Tafel tun. Michael Frischkorn und Günter Rams machen nicht viel Aufheben um ihr Tun. Und 1.200 Menschen im Altkreis Gelnhausen erfahren immer wieder, dass sie nicht „egal“ sind.
Noch einmal zurück zur Politik. Wenn von Politik die Rede ist, dann werden sofort eine Menge Negativbeispiele bemüht: Partikularinteresseren einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder gar Unternehmen, unnötiger Streit und unerträgliche Polemik und als Beispiel dafür wird immer wieder über Menschen geredet, die den eigenen Vorteil nutzen, auch wenn sie wissen, sie tun dies auf Kosten anderer oder der Allgemeinheit. Da sind sie wieder. Die Mietlinge.
Ich glaube, man macht Politik nicht für Zahlen, Daten und Statistiken. Man macht Politik für Menschen – und nicht für die Menschen, die immer nur meckern und fordern –, sondern für die, die Hilfe brauchen sowie für die mit eigenen Ideen und einer positiven Einstellung ihr Leben gestalten und damit automatisch Gutes für andere tun. Sie sind die guten Hirten. Sie sind die Motivation für mich, Politik zu machen. Darum sollte uns allen bewusst sein: Der wahre Reichtum dieses Landes sind seine Menschen.
Deswegen entscheiden wir selbst jeden Tag, ob wir Hirte, Schaf oder am Ende Mietling sind. Jesus erwartet von uns diese Entscheidung und er will sie uns nicht abnehmen. Es ist sein persönlicher Auftrag für uns.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Lieber Herr Dr. Tauber,
große Hochachtung für diese tiefgründigen Zeilen. Weiter so!
Mfg
W.Garb