Der wahre Reichtum dieses Landes
Günter Rams und Michael Frischkorn verbindet auf den ersten Blick nicht sonderlich viel miteinander. Der eine ist überzeugter Christdemokrat, der andere eingefleischter Sozi. Doch beide haben etwas getan, was sie von vielen anderen unterscheidet. Sie haben nicht nur über Not und Armut in der Gesellschaft philosophiert und anklagende Worte gegenüber der Politik formuliert. Sie haben gemeinsam angepackt. Beide haben die Gelnhäuser Tafel zu einer anerkannten und effektiven Institution im mittleren Kinzigtal gemacht, die einerseits der Öffentlichkeit die Not, die es auch in einer wirtschaftlich starken Region, in der ansonsten „die Welt noch in Ordnung ist“, vor Augen führt und andererseits täglich Zeugnis ablegt von dem, was man echten Bürgergeist nennen kann und muss. Männer und Frauen, denen es gut geht, die ein sorgenloses Leben führen können, helfen und übernehmen Verantwortung für die Schwachen in der Gesellschaft. Sie tun dies auf eine Art und Weise, die mit den Worten „christliche Nächstenliebe“ und „Menschlichkeit“ gut umschrieben ist. Und es ist schwer vorstellbar, dass der Staat sich diesen Menschen so individuell und einfühlsam nähern kann, wie es die fleißigen Helfer der Gelnhäuser Tafel tun. Sie alle haben ein Denkmal verdient, aber wahr ist auch, dass es jemanden braucht, der sie anspricht, antreibt und motiviert. Und ohne Michael Frischkorn und Günter Rams, das kann man wohl mit Fug und Recht sagen, wäre die Gelnhäuser Tafel nicht das, was sie ist. Beide machen nicht viel Aufheben um ihr Tun. Und 1.200 Menschen im Altkreis Gelnhausen erfahren immer wieder, dass sie nicht „egal“ sind. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass unsere Gesellschaft längst nicht so kalt ist, wie manche es immer wieder glauben machen.
Jedes Mal, wenn ich nun an einem Blumenladen vorbeikomme, dann denke ich unwillkürlich: „Wie lange es den wohl noch gibt?“ Denn manchmal geht das ganz schnell. Auf einmal ist er nicht mehr da, der kleine Laden an der Ecke. Der Laden, an dem man doch so oft vorbeigegangen ist, den man selten genug betreten hatte, um etwas zu kaufen, selbst wenn man im Gespräch mit Freunden allzu oft darüber philosophierte, dass mit der Umstrukturierung des Einzelhandels hin zu mehreren großen Ketten auf der grünen Wiese und der Verödung der Innenstädte ein Stück Lebenskultur verloren gehe. Ähnlich war das auch bei dem kleinen Blumenladen in Berlin. Auch hier drohte die Schließung. Und sicherlich hätte das Sachar Kriwoj nicht weiter gestört, wenn es nicht – wie er selbst sagt – „der Blumenladen seiner Freundin“ gewesen wäre, die ihn wohl nicht gerade begeistert von der bevorstehenden Schließung berichtet hatte. Sachar Kriwoj gehört zu den Menschen, für die das Internet ein, wenn nicht der bestimmende Teil, seines Lebens ist. Manche würden ihn daher als Netzavantgarde, andere als Nerd bezeichnen. Auf jeden Fall hat er etwas getan, dass nicht nur die Möglichkeiten des Internets aufzeigt: Er hat über das Internet, seinen Blog und die sozialen Netzwerke zur Rettung des kleinen Blumenladens aufgerufen, dem das nötige Geld fehlte, um nach einer Erkrankung des Eigentümers weiterzumachen. Er hat damit Menschen zum Nachdenken über ihr eigenes Konsumverhalten gebracht. Und nach kurzer Zeit haben auch Zeitungen und regionale Rundfunk- und Fernsehsender über den Laden und die „Rettungsaktion“ berichtet. Den Laden gibt es heute noch. Er gibt dem Kiez in Berlin, in dem er sich befindet, ein individuelles Gesicht. Und Sachar Kriwoj, der ansonsten mit und für das Internet lebt, kann jetzt dort weiter für seine Freundin Blumen kaufen, anstelle sie im Netz zu bestellen. Wie viele andere Berliner auch.
Am Ortseingang hielt auf einmal ein Auto neben uns: „Seid ihr Pilger? Wollt ihr in die Kirche?“ Wir nickten. „Klar!“ „Gut. Ich hab den Schlüssel. Ich fahr vor und schließ euch auf.“ Sprach’s und fuhr davon. Wir schleppten unsere schon recht müden Beine die gut 1,5 Kilometer bis zur Kirche hinterher. Auch oder gerade ein Mann Gottes hatte offensichtlich kein Einsehen mit uns oder er wollte uns schlicht und einfach nicht in Versuchung führen. Das alte Gotteshaus in Flatow in der Mark Brandenburg auf dem Weg nach Bad Wilsnack war eine Offenbarung. Die kleine Kirche aus dem 15. Jahrhundert hatte nicht zuletzt dank des Einsatzes von Karlheinz Sandow, so hieß unser Mann Gottes, die DDR mit nur wenigen Blessuren überstanden. Mit wie viel Begeisterung und Herzblut der er von „seiner“ Kirche und ihrer Geschichte sprach, faszinierte uns. Nach einem halbstündigen Vortrag und einem Stempel in unserem Buch ließ er uns dann kurz zum Gebet am Altar, den er selbst renoviert hat, allein. Inzwischen war nämlich ein weiterer Pilger eingetroffen und der sollte schließlich auch alles über das Kirchlein erfahren. Karlheinz Sandow ist einer der Menschen, die in der Dunkelheit ein Licht anzünden, die Zuversicht verbreiten. Mit welcher Inbrunst er von der Bewältigung aktueller Probleme beim Denkmalschutz berichtete oder von den Winkelzügen erzählte, mit denen er der DDR-Staatsführung ein Schnippchen schlug, um wieder Material zur Kirchensanierung zu erhalten, das ließ uns stumm zuhören. Und wie fröhlich er von der gestiegenen Zahl der Kinder berichtete, die nun zur Christenlehre in der Gemeinde gehen würde. Man kann nur schwer beschreiben, wie wir uns fühlten, als wir ihn verließen. Jugendliche würden vielleicht sagen, wir waren „geflasht“. Nach weiteren 8 Kilometern kamen wir im Storchendorf Linum an. Im dortigen Landgasthof bezogen wir Quartier. Und als wir von Karlheinz Sandow in Flatow berichteten war die Freude doppelt groß. Den kannten auch hier nämlich alle.
Man konnte sehen, dass alle gut gelaunt waren. Die Klasse hatte offensichtlich Spaß auf ihrer Abschlussfahrt nach Berlin. Dazu gehörte dann wohl oder übel auch der Besuch des Bundestages und ein Gespräch mit einem Politiker. Angesichts dieser Aussichten und des übrigen Programms war es in der Tat erstaunlich, wie fröhlich und aufmerksam die Schülerinnen und Schüler waren, als ich ihre Klasse in der Otto-Hahn-Schule in Hanau besuchte. Alle waren gebürtig aus Hanau, doch ihre Eltern sind aus aller Herren Länder in die Stadt am Main östlich von Frankfurt gekommen. Alle verbindet, dass sie eine so genannte SchuB-Klasse besuchen. Mit diesem neuen bildungspolitischen Konzept sollen junge Menschen, die aus verschiedensten Gründen Probleme haben, einen Schulabschluss zu erreichen und einen Ausbildungsplatz zu finden, auf die Zeit nach der Schule vorbereitet werden. Viele betonen in öffentlichen Reden die Notwendigkeit, sich dieser Gruppe junger Menschen besonders anzunehmen. Hinter vorgehaltener Hand haben aber leider Viele die Jungen und Mädchen bereits aufgegeben. Nicht so ihre Lehrerin und ihre Sozialpädagogin. Es war beeindruckend, mit welcher Überzeugung beide an die Fähigkeiten ihrer „Zöglinge“ glaubten, aber zugleich realistisch deren Chancen erkannten, diese sind nicht rosarot – trotz dieses guten Programms und des damit verbundenen Aufwands. Aber darum geht es nicht allein. Man merkte den jungen Menschen an, dass sie sich ernst genommen fühlten – eine für sie wahrscheinlich neue Erfahrung. Wie viel Kraft und Aufwand notwendig sind, und dass doch jeder dieser Mädchen und Jungen die Mühe wert ist, habe ich dann bei meinem zweiten Zusammentreffen mit der Klasse gespürt. Dabei kann man über schlechte Rahmenbedingungen, falsche bildungspolitische Weichenstellungen in den letzten Jahrzehnten und andere Dinge klagen. Doch viel wichtiger war, den jungen Leuten deutlich zu machen, dass sie selbst ihre Chancen erkennen und ergreifen müssen. Und darum sind diese Menschen so wichtig. Jemand muss denen, die sich selbst oft für chancenlos halten, zeigen, dass sie erfolgreich sein können, wenn sie sich anstrengen, an sich glauben und vielleicht auch noch das notwendige Quäntchen Glück haben. Beide stellen mit ihrem Tun nicht die Statistik auf dem Kopf. Auch in dieser Klasse finden nicht alle einen Ausbildungsplatz oder haben erkannt, dass es einer eigenen Anstrengung bedarf. Aber beide Frauen vermitteln den Eindruck, dass ihr Beruf mehr Berufung als reiner Broterwerb ist. Man wünscht sich mehr Menschen, die ihren Job mit so viel Herzblut tun und das andere spüren lassen.
Manchmal fragt man sich, was Politik erreichen kann und erreichen soll. Man fragt sich (oder wird gefragt), warum man Politik macht, warum es wichtig ist, sich zu engagieren und für wen man das eigentlich tut. Wenn von Politik die Rede ist, dann werden sofort eine Menge Negativbeispiele bemüht: Partikularinteresseren einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder gar Unternehmen, unnötiger Streit und unerträgliche Polemik und als Beispiel dafür wird immer wieder über Menschen geredet, die den eigenen Vorteil nutzen, auch wenn sie wissen, sie tun dies auf Kosten anderer oder der Allgemeinheit. Ganz oft reden Politiker bei solchen grundsätzlichen Fragen dann von Wirtschaftsdaten, Arbeitslosenzahlen, Statistiken oder noch schlimmer ideologisch geprägten Weltbilder, wie die Menschen und die sie umgebende Welt bitteschön zu sein hat.
Ich habe von sechs Menschen erzählt. Und ich hätte noch von so vielen mehr berichten können, die ich immer wieder treffe oder gerade in den letzten neun Monaten getroffen und kennengelernt habe. Auf den ersten Blick haben sie alle mit den letzten Gedanken zur Politik nicht viel zu tun. Und wie so oft im Leben lohnt sich auch hier ein zweiter, ein genauerer Blick. Denn man macht Politik nicht für Zahlen, Daten und Statistiken. Man macht Politik für Menschen – und nicht für die Menschen, die immer nur meckern und fordern – , sondern für die, die mit eigenen Ideen, Kreativität und einer positiven Einstellung ihr Leben gestalten und damit automatisch Gutes für andere tun. Sie sind die wahren Helden dieses Landes. Sie sind die Motivation für mich, Politik zu machen. Darum sollte uns allen bewusst sein: Der wahre Reichtum dieses Landes sind seine Menschen.