Zeitgeschichte als „Betriebsanleitung“ Die Tagebücher von Kurt Biedenkopf
Insgesamt 1 500 Seiten umfassen die jetzt veröffentlichten Tagebücher Kurt Biedenkopfs für die Zeit von 1989 bis 1994. Schon allein dieser Umfang beschreibt die unglaubliche Dynamik und Fülle dieser Zeitenwende (und eine ungekürzte Fassung wird erst demnächst online publiziert). Ich selbst war während des Falls der Mauer Schüler. Aber auch ich habe damals gespürt, dass es besondere Zeiten waren, die wir erlebten. Kurt Biedenkopf hatte das Glück diese Zeit mitgestaltet. Wer seine Tagebücher liest, der spürt: Es war nicht nur eine spannende Aufgabe für ihn, es war ihm eine Berufung.
„Die Vierzigjährigen in unserem Land gehören nicht zu den initiativreichsten und risikofreudigsten Menschen“, schreibt Kurt Biedenkopf am 6. Februar 1990 (Band 1, S. 98). Mit heute 41 Jahren habe ich dennoch sehr gerne das „Risiko“ auf mich genommen, in dieser Woche die Tagebücher eines meiner Vorgänger im Amt des Generalsekretärs der CDU vorzustellen. Auf jeden Fall ist es eine Ehre für mich.
Diese Tagebücher sind nicht nur eine Chronik der Arbeit und des Lebens von Kurt Biedenkopf, sie sind im 25. Jahr der Deutschen Einheit auch ein Dokument der Zeitgeschichte. Es ist aber auch eine „Anleitung“ für Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft, die er schon vor 25 Jahren beeindruckend klar beschrieben hat – von der Einwanderung bis zur Globalisierung.
Und die Tagebücher sind eine ungemein kurzweilige Lektüre. Dass Kurt Biedenkopf 1991 Pfeifenraucher des Jahres war, dass er im August 1990 noch Staatsbürger der DDR wurde, „Pretty Woman“ offensichtlich zu seinen Lieblingsfilmen gehört oder dass er sich als Ministerpräsident mit der Fahrt im Führerstand der Kleinbahn in Dippoldiswalde einen Kindheitstraum erfüllte, wussten vermutlich nur die Wenigsten. In den Tagebüchern finden diese Facetten Platz, auch weil der Autor bewundernswert detailliert berichtet. Allein der Eintrag vom 22. September 1990 umfasst 22 Seiten. Schnell stellt sich die Frage, wann Kurt Biedenkopf die Zeit gefunden hat, all das aufzuschreiben. „Nachts!“, rief seine Frau Ingrid bei der Buchvorstellung aus der ersten Reihe. So etwas hatte ich schon vermutet.
Volker Kauder hat einmal zu mir gesagt: „Einmal Generalsekretär, immer Generalsekretär.“ Dass daran etwas Wahres ist, merkt man dem Tagebuch an. Den ehemaligen Generalsekretär Kurt Biedenkopf lässt seine Partei, seine CDU, nicht los. Der Aufbau einer neuen Parteistruktur in Sachsen nahm Biedenkopf ebenso in Anspruch wie die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ost-CDU. Er geht sensibel mit den verschiedenen Persönlichkeiten und Geschichten um. Er lässt sich darauf ein, ist neugierig und aufgeschlossen gegenüber neuen Gedanken und neuen Gesichtern. Zu diesen gehörte im Jahr 1991 auch Angela Merkel:
Schließlich wurden Frau Merkel und Frau Lieberknecht als stellvertretende Vorsitzende und Mitglied des Präsidiums gewählt. Zwei junge Frauen, die sich hervorragend vorstellten und ein Ausdruck der Verjüngung und Erneuerung der Partei sind, wie man ihn sich nicht schöner vorstellen kann.“ (Band 2, S. 283)
Es sind darüber hinaus immer wieder Parallelen zu den Herausforderungen heute zu entdecken. Die Debatte um die Republikaner in dieser Zeit erinnert stark an die Auseinandersetzung mit der heutigen AfD. Und die Partei stellte sich auch 1993 schon die Frage, wie sie die Jugend besser erreichen könne. Deutlich werden diese Debatten in der CDU vor allem dank Biedenkopfs Mitschriften aus den Bundesvorstands- und Präsidiumssitzungen. Diese „Leaks“ aus den Gremiensitzungen sind hochinteressant. Während man heute am nächsten Tage Details der Sitzungen in den Zeitungen nachlesen kann, sind die Einblicke in die Debatten der Gremien und hinter die verschlossenen Türen vor 25 Jahren ein wirklicher Mehrwert.
Ein zentrales Thema der Bücher ist die Deutsche Einheit und die (erneute) Gründung des Freistaats Sachsen. Am 20. November 1989 beschäftigt sich Kurt Biedenkopf zum ersten Mal mit dem Gedanken, was er persönlich zur Gesundung der DDR beitragen könne. Die „Größe der Aufgabe“ war ihm schnell klar. Im Umbruch sah er auch für den Westen eine große Chance, um einen Aufbruch zu wagen. Die Chance, Pfründe und Mittelmäßigkeit abzuschütteln, sieht Biedenkopf später verpasst. Der Mut zur Veränderung habe im Westen weniger geherrscht als im Osten.
Mutig waren die Menschen in Sachsen, wo Biedenkopf – wie er selbst schreibt – seine Bestimmung fand:
„Nach vier Wochen Wahlkampfreise und Besuch fast aller Landkreise und kreisfreien Städten in Sachsen sehe ich das Land mit anderen Augen. Was noch vor Monaten trüb und grau erschien, beginnt zu leuchten. Ich kann erkennen, wie die Dörfer und Städte in fünf Jahren aussehen werden. Überall beginnt es zu sprießen. Kleine Läden werden neu eingerichtet, an den Häusern erscheinen Gerüste, erste Baustellen entstehen. Eine große Geschäftigkeit hat weite Teile des Landes erfasst.“ (Band 1, S. 376)
Diese Sätze verkörpern Zuversicht, Aufbruchsstimmung und Selbstbewusstsein. Zu Recht, wie sich beim grandiosen Wahlsieg und bei der Wahl zum Ministerpräsidenten am 27. Oktober 1990 zeigte. 32 Stimmen kamen gar aus den Reihen der Opposition. Ein herausragendes Ergebnis für einen fulminanten Wahlkampf. Man muss sich vor Augen führen: Zwischen dem ersten Gedanken daran, als Ministerpräsident in Sachsen zu kandidieren und dem Tag der Wahl durch den sächsischen Landtag, lagen ganze 166 Tage.
„Ein neues Land entsteht“, ist der zweite Band der Tagebücher überschrieben. Das ist wörtlich zu verstehen. Eine neue Verfassung des Freistaats musste her, Kreisgebietsreform, Neuordnung des Wirtschaftslebens und des Arbeitsmarktes, Probleme mit der Treuhand – an Aufgaben herrschte kein Mangel. Auch heute noch sind viele der Fragen von damals „ungewollt“ aktuell:
„Den Straßenverkehr will Kohl unter dem Einfluss von[Günther] Krause durch die Ausgabe von Vignetten, also durch Straßenbenutzungsgebühren, verteuern. (…) Man will die Holländer und alle anderen Nachbarn für die Nutzung unserer Autobahnen zur Kasse bitten, um damit auch die Wettbewerbsnachteile auszugleichen, unter denen heute die deutschen Transporteure leiden.“ (Band 3, S. 136)
Weitere Beispiele sind die Perspektive schwarz-grüner Koalitionen, die geopolitische Lage der Ukraine, die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Flankierung des Euro und die Lage im Nahen Osten. Biedenkopf thematisiert messerscharf die Erwartungshaltung in der DDR gegenüber dem westlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Er befürchtete eine aus Unverständnis gegenüber den Neuerungen erwachsene Passivität. Eine Haltung, die auch heute eine erfolgreiche Integration zu behindern droht:
„Den meisten ist die freiheitliche Ordnung ebenso ein Buch mit sieben Siegeln wie das Fernsehgerät, das sie täglich benutzen, oder das Auto, mit dem sie zur Arbeit fahren. Sie wissen, wie man diese komplexen Systeme gebraucht. Aber sie wissen nicht, wie sie funktionieren. Bei der Technik reicht die Kenntnis von der Handhabung der Systeme aus. Bei den gesellschaftlichen Zusammenhängen, in die man sich einbringt, reicht sie im Grunde nicht. Jedenfalls reicht sie nicht für denjenigen, der nicht in der freien Gesellschaft aufgewachsen ist, sondern mit ihr erst als Erwachsener konfrontiert wird. Er muss wissen, wie sie funktioniert, denn er muss wissen, in was er sich einbringt.“ (Band 1, S. 145)
Wichtig war Kurt Biedenkopf neben den institutionellen und wirtschaftspolitischen Neuerungen die Stiftung von Identität. Wie sehr er sich den Sachsen verbunden fühlte, zeigt exemplarisch sein Einsatz für die Sanierung der Altstadt in Görlitz und für die Porzellanmanufaktur in Meißen. Mehr noch als eine Verfassung bedeuten Denkmäler, Gebäude und regionale Produkte Heimat. Sie berühren das Herz. Dieses Identitätsbewusstsein war für Biedenkopf eine wichtige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den er allerdings gefährdet sah:
„So kommt der Zusammenhalt des Ganzen, der ein geistiger Zusammenhalt sein muss, in Gefahr, verlorenzugehen. Wir haben unseren einmaligen Wohlstand in den vergangenen Jahrzehnten erarbeiten können, weil wir bereit waren, alle Kräfte des Einzelnen freizusetzen. Auf soziale Bindungen, wie Rücksichtnahme, personale Zuwendung, Nächstenliebe, Bereitschaft zur Begrenzung zugunsten des Schwächeren, personale Solidarität, haben wir im Zuge der Emanzipation [des Einzelnen] weitgehend verzichtet.“ (Band 2, S. 405)
Diese Themen beschäftigen uns auch heute ganz aktuell. „Dann ist das nicht mein Land!“, sagt unsere Bundeskanzlerin und meint die Abwesenheit der hier aufgeführten Werte. Sie sind ein Angebot an die Menschen, die zu uns kommen, gleichzeitig aber auch eine klare Aussage darüber, was unser Land zusammenhält. Und so lesen sich viele Passagen der Tagebücher wie Beschreibungen der Herausforderungen, derer wir heute gewahr werden. Viele Gedanken und Sätze, sind heute noch ebenso richtig und wichtig wie vor 25 Jahren.
Die Tagebücher Kurt Biedenkopfs empfehle ich auch aus diesem Grund dringend zur Lektüre. Vor allem aber, weil das Eintauchen in die spannende Zeit vor 25 Jahre viel Freude bereitet.
- Band 1, „Von Bonn nach Dresden“ – Aus meinem Tagebuch. Juni 1989 bis November 1990, München 2015.
- Band 2, „Ein neues Land entsteht“ – Aus meinem Tagebuch. November 1990 bis August 1992, München 2015.
- Band 3, „Ringen um die innere Einheit“ – Aus meinem Tagebuch. August 1992 bis September 1994, München 2015.
Die Bilder stammen von Petra Schulz, Sächsische Landesvertretung. Danke!