Einwanderungsland Kanada – Mein Bericht
Deutschland diskutiert über die Zukunft des Landes. Diesmal geht es um die Frage: Wer trägt das Land eigentlich? Der demografische Wandel hat unsere Gesellschaft voll erfasst und auch jetzt werden immer noch zu wenige Kinder geboren. Demnächst scheiden doppelt so viele Menschen aus dem Erwerbsleben aus wie die Schule oder eine Ausbildung bzw. Studium abschließen. Auch deshalb gibt es eine breite Debatte über Einwanderung. Welche Einwanderung wollen wir? Wer passt zu uns? Fragen, die Deutschland als Einwanderungsland beantworten muss. Fragen, die Deutschland als Einwanderungsland immer wieder neu wird beantworten müssen, denn die Antworten werden sich ändern. Das ist das erste, was man von den klassischen Einwanderungsländern lernen kann. Neuseeland, Australien und das vielfach beschriebene Kanada überprüfen und verändern ihre Einwanderungsgesetze regelmäßig. Ich war im April in Kanada, um mir selbst ein Bild zu machen. Was ist neu an den kanadischen Regeln? Was können wir lernen, vielleicht sogar übernehmen? Welche Kultur ist Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen? Hier mein Bericht:
Ein volles Programm
Die kurze Reise war vollgepackt. Unter anderem traf ich drei Mitglieder der kanadischen Regierung: Chris Alexander, Minister of Citizenship and Immigration, Jason Kenny, Minister of National Defence and Minister for Multiculturalism und Kellie Leitch, Minister of Labour and Minister of Status of Women. Klar war schon angesichts dieser Zuständigkeiten: Nicht nur ein Kabinettsmitglied ist damit befasst, gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Einwanderer zu organisieren. Es ist eine Gesamtaufgabe der Politik – und nicht nur der Politik, sondern der kanadischen Gesellschaft. Darum habe ich ebenfalls mit Vertretern der Zivilgesellschaft, einen Think Tank sowie Migrationsforschern der Universität Ottawa gesprochen. Doch der Reihe nach:
Mein erstes Gespräch auf der Arbeitsebene führte ich mit Christoph Orr und anderen Experten von Citizenship and Immigration Canada, einer Behörde. Orr sprach Mitte April auch auf einer Konferenz des BMI, auf der Thomas de Maiziére erstmals sehr klar Deutschland als Einwanderungsland bezeichnete. Die sehr lesenswerte Rede des Innenministers findet man hier. Im Gespräch ging es um die Reformen des Einwanderungsrechtes, die Kanada gerade zu Jahresbeginn in Kraft gesetzt hat. Dabei neu ist vor allem eine bessere Einwanderungssteuerung und Organisation der Bearbeitung von Einwanderungsanträgen („Express Entry“). Den einzelnen Provinzen wird es erleichtert, über eigenständige Kanäle das Einwanderungssystem zu nutzen. Auch ist die Orientierung an einem verbindlichen Arbeitsplatzangebot gestärkt worden. Orr macht auch deutlich, dass schon heute eine Einwanderung auch außerhalb des viel zitierten Punktesystems möglich sei, ja diese sogar den größeren Teil der Einwanderung ausmache. Stichworte sind hier der Familiennachzug und das Kontingent an Flüchtlingen und Asylbewerbern.
Vielfalt als Grundlage der kanadischen Nation und Identität
Interessant war auch das zweite Gespräch mit Dr. Brian Lee Crowley, Managing Director Macdonald-Laurier Institute for Public Policy, einem kanadischen Thinktank, mit dem ich über die Idee des „Nation Building“ als Grundlage für die kanadische Einwanderungspolitik sprach. Nachdem Kanada über Jahrzehnte Einwanderung vor allem aus Europa bevorzugte war die Einführung des Punktesystems Ende der 1960er Jahre eine Abkehr von der Idee des „white Canada“, den durch das Punktesystem ging es nicht um die Frage, welcher Ethnie oder Religion ein potentieller Einwanderer angehörte, sondern welche Fähigkeiten und Qualifikationen er oder sie mitbringt.
Auf dieser Objektivierung, eine Grundlage der Vielfalt und Modernität der kanadischen Gesellschaft, seien die Menschen in Kanada stolz. Der Stolz auf die eigene Nation und die multikulturelle Ansatz, in dessen Mittelpunkt aber die neue Identität als kanadischer Bürger steht. Dieser Grundgedanke ist mir in nahezu jedem Gespräch begegnet. Das zeigt: Unser Ansatz, alleine über Arbeitskräfte zu reden, springt zu kurz. Wir müssen darüber reden, dass Menschen, die zu uns kommen, über kurz oder lang deutsche Bürger werden.
Im Anschluss habe ich mich mit Vertretern der Zivilgesellschaft, u. a. vom Catholic Centre for Immigrants Ottawa und vom Ottawa Chinese Community Service Centre, gesprochen. In Kanada gibt es ein umfangreiches ehrenamtliches Engagement, um Einwanderern den Start zu erleichtern. Übertragen auf Deutschland könnte das praktizierte Modell seine Entsprechung im Bundesfreiwilligendienst oder dem Freiwilligen Sozialen Jahr finden. Dies auch für die Begleitung von Einwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen stärker zu nutzen wäre eine sinnvolle Initiative. Damit verbunden haben wir in Deutschland noch keine flächendeckende Willkommensstruktur in Form von „Willkommenszentren“. Den demografischen Wandel haben wir mit dem Projekt der Mehrgenerationenhäuser gesellschaftspolitisch begleitet – sehr erfolgreich. Ein vergleichbares Projekt, vielleicht sogar unter Einbeziehung der Mehrgenerationenhäuser, könnte auch Sinn machen, um die Etablierung und Entwicklung einer echten Willkommensstruktur und Willkommenskultur in Deutschland voranzutreiben.
Das Miteinander von Einwanderern und gebürtigen Kanadiern ist eine Stärke der Zivilgesellschaft. Hilfreich ist dabei das Selbstverständnis als eine offene Gesellschaft, die jedem Einwanderer Chancen bietet. Diese Chancenorientierung stand auch im Mittelpunkt meines Gesprächs mit der kanadischen Arbeitsministerin Kellie Leitch. Sie räumte ziemlich deutlich mit der Legende auf, das Punktesystem führe dazu, dass Akademiker gezwungen seien Taxi zu fahren, weil sie ohne ein entsprechendes Jobangebot eingewandert seien. Sollte es dazu kommen, dass Einwanderer einen Job, der weit unter ihrer Qualifikation liege, ausüben müssten, so liege dies an den oftmals sehr langwierigen Verfahren zur Anerkennung von Berufsqualifikationen bzw. Hochschulabschlüssen. Dieser Schwäche des kanadischen System wird jetzt dadurch begegnet, dass bereits vor der Einreise nach Kanada die Anerkennung von Qualifikationen geklärt sein soll.
Provincial Nominee Programm und Fachkräftemangel im ländlichen Raum
Ein besonderes Anliegen ist der Arbeitsministerin aber das Programm, um die Einwanderung regional zu steuern. Auch in Kanada gibt es einen Zuzug in die großen Metropolen. Regionale Unternehmen vergleichbar zum deutschen Mittelstand haben es entsprechend schwerer als nationale Konzerne Einwanderer zu begeistern. Mit dem „Provincial Nominee Programs“ und der „Job Bank“ hat Kanada nun ein System, dass es leichter möglich macht, die regional sehr unterschiedlichen Bedarfe nicht nur zu ermitteln, sondern auch zu bedienen. Wer in Deutschland mit Landräten und Bürgermeistern im so genannten ländlichen Raum spricht, der wird erleben, dass dort der Fachkräftemangel bereits Alltag ist. Hier könnte ein entsprechendes Modell auch bei uns helfen. Kommunalpolitiker wie der Goslarer Oberbürgermeister Oliver Junk, den ich neulich getroffen haben, denken längst in diese Richtung.
Die Gespräche fanden im kanadischen Parlament statt. Ich habe die Gelegenheit genutzt, auch einmal der gerade laufenden Parlamentsdebatte zu folgen und auch einen Blick in die wunderschöne Parlamentsbibliothek zu erhaschen. Später habe ich auch Jason Kenney getroffen, er ist nicht nur einer der Vordenker der kanadischen Konservativen, sondern Minister für National Defence and Multiculturalism“ – eine auf den ersten Blick merkwürdige Mischung, die aber dadurch begründet wird, dass er schon in der Vergangenheit intensiv auf dem gesellschaftspolitischen Feld gearbeitet hat und daher diese Kompetenz behalten sollte. Wir sprachen intensiv über Integrationserfolge und Teilhabe von Einwanderern („Integration outcomes depend on immigration inputs!“). Kenney ist gut „vernetzt“ bei den verschiedenen Organisationen, denn ähnlich wie bei uns gibt es durch Gruppen und Organisationen, die sich entlang der Abstammung der Einwanderer orientieren.
Transatlantische Partnerschaft und Wertegemeinschaft
Am Abend hatte ich dank der Unterstützung des deutschen Botschafters Werner Wendt die Gelegenheit, mich mit deutschen Auswanderern und Migrationsforschern auszutauschen. Mit dabei waren Sharon Kan, Carl Nicholson, Mengistab Tsegaye und Carolyn McGill. So sahen die Experten beispielsweise die aktuelle Entscheidung der kanadischen Politik, bei der Einwanderung einen stärkeren Konnex zwischen Einwanderung und Arbeitsplatz herzustellen, dem deutschen Prinzip sehr ähnlich, sehr kritisch. Hier müsse man aufpassen, dass der Gedanke des „Nation building“ nicht zu kurz komme. Auch bei den Gesprächen am Abend ist mir noch einmal bewusst geworden. Diversität wird in Kanada als Stärke und als Wesensmerkmal der Gesellschaft definiert. Die Vielfalt ist zugleich Bestandteil einer Leitkultur, denn trotz aller Traditionen und Pflege der eigenen Wurzeln gibt es einen starken Bezug zur kanadischen Nation. Der dadurch zum Ausdruck kommende Patriotismus ist sozusagen das Grundgerüst der modernen Einwanderungsgesellschaft – auch ein Punkt, bei dem wir von Kanada sicher noch etwas lernen können. Hier gibt es noch eine Zusammenfassung der Reise auf der Internetseite der deutschen Botschaft in Kanada.
Außerdem hatte ich Gelegenheit, beim Mittagessen den National Security Advisor to the Prime Minister Richard Fadden sowie Associate Deputy Minister of Foreign Affairs Peter Boehm zu treffen. Fragen der Einwanderung im Rahmen der Familienzusammenführung, aber auch die vergleichsweise kurzen Fristen für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis und die Einbürgerung konnten wir intensiv besprechen. Interessant war auch der Hinweis, dass ca. 85 % der Einwanderer zu kanadischen Staatsangehörigen werden.
Auch über das geplante Freihandelsabkommen CETA und gemeinsame Herausforderungen wie den Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat habe ich mit Kollegen in Kanada sprechen können. Das würde jetzt an dieser Stelle zu weit führen. Noch einmal bewusst geworden ist mir dabei allerdings, dass wir als Deutsche und Europäer ein Interesse daran haben sollten, die transatlantische Partnerschaft wieder stärker in den Blick zu nehmen. Bei allen Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Sachfragen bleiben Europa und Nordamerika eine Wertegemeinschaft.
Keine Zukunft ohne Geschichte
Am Ende der Reise war noch Zeit für ein Besuch im Canadian Museum of History. Übrigens haben alle Einwanderer in der ersten Zeit freien Eintritt in allen Museen. Auch das ist ein Element der Willkommenskultur und ein klares Zeichen: Ihr gehört jetzt dazu. Wie wichtig das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit als Nation für das Aufbauen einer gemeinsamem Zukunft ist – selbst wenn viele Bürgerinnen und Bürger eine eigene Geschichte mitbringen – dokumentiert das Museum selbst: Drei große Fahnen wehen vor dem futuristischen Gebäude: „Your Country“, „Your History“ und „Your Museum“ steht darauf zu lesen.
Auch hier: Ist es vorstellbar, dass wir als Deutsche offensiv postulieren, die deutsche Geschichte sei auch prägend für die Identität der 15 Millionen Menschen in unserem Land, die einen so genannten Migrationshintergrund haben? Müssten wir das nicht viel stärker tun, wenn es darum geht, unsere Rolle als Nation in Europa und in der Welt zu beschreiben? Die Diskussion, was die Menschen in unserem Land verbindet, werden wir in einer Einwanderungsgesellschaft künftig anders führen müssen. Derzeit vermeiden wir diese Debatte manchmal noch. Wir haben noch nicht verstanden, dass darin vor allem eine Chance liegt. Auch hier kann man von Kanada lernen. In einer Einwanderungsgesellschaft zu leben bedeutet, offen für das Neue zu sein und sich zugleich das Gemeinsame bewusst zu machen und danach zu streben, das Trennende zu überwinden. Das kann man von Kanada lernen.
Dieser Text stammt aus dem Jahr 2015. Damals bin ich in meiner Eigenschaft als CDU Generalsekretär nach Kanada geflogen, um mir vor Ort ein Bild zu machen. So wie aktuell Hubertus Heil und Nancy Faeser. Ich habe nach den Medienberichten ein wenig die Sorge, dass beide das Wesentliche, was Kanada in seiner Einwanderungspolitik anders macht als Deutschland nicht wahrgenommen haben. Darum habe ich diesen Text jetzt noch einmal unverändert geteilt.
Sehr geehrter Herr Dr.Tauber,
ein überaus interessanter Bericht, der viele defizitäre Stammtischdiskussionen aushebelt, weil er konkret aus der Realität berichtet und vor allem konstruktiv ist.
Ich habe den Bericht vielen Leuten als Verweis weitergeleitet.
Freundliche Grüße, J.Gerlach
Ein guter solider Bericht, dessen Inhalt zu jedem westlichen Land zutreffen würde. Nur unsere Chefin wird dass nicht beeindrucken. Es wird langsam Zeit, dass Sie lernt und weiss, das Sie nicht (auch als Kanzlerin) zu bestimmen hat, was zu Deutschland gehört. Ein kleiner Zaunpfahlwink noch vor 2017 wäre angebracht und nicht nur Deutschland würde aufatmen.