Ein Spiegelbild für Nerds und Internetausdrucker
Ich sitze gerade im Zug nach einer wirklich anstrengenden Sitzungswoche. Auch wenn die Entscheidung über eine Neujustierung der Griechenlandhilfe sicher die wichtigste Entscheidung war rege ich mich noch über die Debatte zum so genannten Leistungsschutzrecht auf. Warum und was mich ärgert, ist eine andere Geschichte. Für die Fahrt habe ich mir Lektüre mitgenommen und nun endlich das Buch „Internet. Segen oder Fluch“ von Sascha Lobo und Kathrin Passig zu Ende gelesen. Danke! Das Buch ist für mich eines der lesenswertesten Bücher des Jahres 2012 und wohltuend sachlich, unaufgeregt und zugleich witzig. So kann man also über Netzpolitik auch nachdenken und schreiben.
Sascha Lobo und Kathrin Passig muss man eigentlich nicht vorstellen. Halt! Doch muss man, denn ein Teil der Leser, an die sich das Buch richtet, kennen die beiden vielleicht noch gar nicht. Also hier mal ein paar Infos zum Nachlesen über Lobo und Passig. Das ist aus meiner Sicht übrigens die Stärke des Buches: Es ist nicht nur eine Selbstreflexion für alle Nerds, Piraten und Mitgliedern der „Netzgemeinde“, die sich von Lobo noch einmal bescheinigen lassen wollen, dass sie im Gegensatz zu Unternehmern, Politikern, Lehrern und eigentlich allen anderen das Netz verstanden haben.
Das Buch ist für alle, die noch nicht so recht wissen, ob sie das Internet jetzt lieben sollen oder nicht. Auch die Internetausdrucker dürften bei der Lektüre Spaß haben. Keinen Spaß hat, wer nicht offen ist und gar keine wirkliche Diskussion über die Folgen des Netzes für unsere Gesellschaft sucht. Eine gute Gelegenheit, mal mein Lieblingszitat zu platzieren. „Eine Diskussion ist unmöglich mit jemandem, der vorgibt, die Wahrheit nicht zu suchen, sondern schon zu besitzen“, hat Romain Rolland einmal gesagt. Wer sein eigenes Weltbild nicht hinterfragt sehen will, der liest das Buch also besser nicht (und das gilt explizit für beide Seite – also für die Markus Beckedahls und Hans-Peter Uhls). Das Buch will eine Diskussion und lässt dabei immer beide Seiten zu Wort kommen.
Worüber Passig und Lobo allerdings nicht mehr streiten ist die Feststellung, dass das Netz inzwischen zu so etwas wie einem „Gesellschaftsbetriebssystem“ geworden ist. Und auch die erklärten Skeptiker kommen ja nicht umhin, zuzugeben, dass diese Einschätzung stimmt. Das merkt man schon daran, dass ich bis jetzt wenig Mitstreiter für meine Forderung gefunden habe, das Internet einmal auszudrucken und dann abzuschalten. Ich bin durch das Buch allerdings mehr als versöhnt, denn als Historiker schlug mein Herz bei der Lektüre auch deswegen höher, weil es gespickt ist mit historischen Vergleichen und Anekdoten, die uns erahnen lassen, wie künftige Generationen über manche heute mit heiligem Ernst vorgetragenen Wortbeiträge oder geschriebene Namensartikel denken werden.
Die aufs Heute übertragenen Beispiele werden nicht jedem gefallen, aber sie halten uns nicht nur einen Spiegel vor, sondern machen die Lektüre extrem kurzweilig. Man muss erst mal drauf kommen, die 1989 von Ronald Reagan, dem personifizierten kalten Krieger, gemachte Äußerung: „Der Goliath des Totalitarismus wird besiegt werden durch den David Mikrochip.“ in Kontext zu setzen mit der Technikgläubigkeit mancher Piraten, die im Netz automatisch den nächsten Quantensprung für mehr Demokratie sehen. Der Einwurf der Autoren, dass Technik zwar neue Perspektiven eröffne, aber Reagans Glaube, dass die moderne Technik den Kommunismus besiegen werde genauso wie die Haltung vieler Piraten, das Internet heute automatisch Freiheit und Demokratie stärke, ein Optimismus „gegenüber der Technik, bei dem die Weltverbesserung automatisch ab Werk eingebaut“ sei, der doch recht blauäugig anmutet. Beide erinnern an den jeweiligen Passagen des Buches, an denen diese Zukunftsoffenheit angesprochen wird, immer wieder daran, dass es an uns liegt, ob die Entwicklung positiv verlaufen wird. Sie tun das dann ohne den sonst so oft erhobenen Zeigefinger. Auch das macht das Lesen angenehm.
Mein absoluter Lieblingssatz räumt mit dem Hype rund um die Bedeutung der sozialen Netzwerke für den arabischen Frühling auf. Unabhängig davon, dass wir noch gar nicht wissen, ob dieses Aufbegehren gegen Machthaber wirklich zu mehr Freiheit oder nicht zu islamischen Gottesstaaten führen wird, waren manche sich nicht zu blöd, den Ausbruch der Revolutionen sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook zuzuschreiben. Lobo und Passig versteigen sich zu der These: „Intensive Hintergrundrecherchen für dieses Buch ergaben jedoch, dass es auch schon vor Facebook und Twitter zu Revolutionen gekommen sein soll.“ Das musste mal gesagt werden.
Inhaltlich wird nahezu alles geboten. Mir hat der kritische Blick auf die Kulturflatrate ebenso gut gefallen, wie die Beschreibung der verschiedenen Szenarien zur Neufassung des Urheberrechts. Lobo und Passig trauen sich dabei nicht nur, unvoreingenommen alle Möglichkeiten auszuloten, sondern geben auch noch eine Prognose ab, wie realistisch die einzelnen Szenarien sind.
Andere Themen sind Datenschutz, Partizipationsmöglichkeiten und die Regulierung des Netzes. Natürlich geht es auch um das ständige Abwägen von Sicherheit und Freiheit. Sie relativieren des Wehklagen über die Selbstentmündigung des Menschen durch den personalisierten Algorithmus ebenso wie sie uns daran erinnern, dass die Dinge, die wir im Internet finden, ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sind und eben nicht durch das Netz „gemacht“.
Auch auf den (vermeintlichen) Widerspruch, dass „libertäre Netzfreunde“ nicht mehr grundsätzlich staatliche Regulierung ablehnen – zum Beispiel beim Thema Netzneutralität – verweisen die Autoren. Gut ist außerdem, wie Passig und Lobo kritisch mit der Hysterie rund um die Filterbubble umgehen und hier relativieren ohne blauäugig zu sein. Viele kluge Gedanken also.
Besonders gut hat mir auch die Stelle mit dem toten Eichhörnchen gefallen. Nein ich bin kein Tierquäler und ich finde, dass Eichhörnchen nette Tierchen sind (aber ohne Chance im Vergleich zum Biber). Aber da sind wir schon beim Punkt. Ob a) andere diese Einschätzung teilen oder es b) überhaupt für relevant halten, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, entscheide nicht ich. Und genau auf diesen Punkt gehen die Autoren ausführlich ein. Aus meiner Sicht ist es die entscheidende Frage, denn nicht nur mit Blick auf das Internet sollten wir akzeptieren, dass die Meinungen darüber, was wirklich wichtig ist, weit auseinandergehen. Mehr Gelassenheit, weniger schnelle Empörung, mehr Offenheit für Sichtweisen anderer – das ist für mich der rote Faden, der sich durch das Buch zieht.
Die Liste der Punkte, die ich noch erwähnenswert finde, ist so lang, dass ich aufpassen muss, hier nicht den Rahmen zu sprengen. Darum höre ich an der Stelle mal auf und kann nur sagen: Lest selbst! Hurra!