Wie man den Geist Ludwig Erhards am Leben erhält
Es wäre ein Leichtes, anlässlich des 120. Geburtstages von Ludwig Erhard auf eine der vielen aktuellen Erfolgsgeschichten in Deutschland zu verweisen. Etwa auf einen der zahlreichen erfolgreichen Mittelständler, die mit dafür sorgten, dass Deutschland 2016 wieder Exportweltmeister war. Oder auf einen der über vier Millionen Erwerbstätigen, die seit 2005 einen neuen Job gefunden haben. Oder auf einen der 122 Landkreise, in denen im Januar rein statistisch Vollbeschäftigung herrschte. Es ist kein Wunder, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vor wenigen Tagen schrieb: „Deutschland geht´s so gut wie nie.“ Das alles zeigt: Die Verheißung der Sozialen Marktwirtschaft – Wohlstand für alle – ist keine Utopie.
Aber fast 70 Jahre nach ihrer Einführung steht die Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vor großen Herausforderungen. International sehen wir eine erschreckende Rückkehr zu kleingeistigem Protektionismus und wirtschaftsfeindlichem Populismus von rechts und links – siehe die maßlose, unberechtigte Kritik am Freihandelsabkommen TTIP.
Und in Deutschland ist leider auch nicht alles rosarot. Das zeigt eine Geschichte aus meiner Heimat. Ein Bäcker in einer kleinen Gemeinde fand keine Lehrlinge mehr und war deswegen kurz davor, seinen Laden zu schließen. Vor allem, weil ihm nach eigenen Aussagen die Discounter mit ihren Aufbackbrötchen das Leben schwer machen und die Einnahmen oft nur noch die Ausgaben deckten. Zehn Leute hätten bei einer Pleite ihren Job verloren. Aber vor einigen Monaten fand er einen äthiopischen Flüchtling, der bei ihm als Lehrling anfing und mit großem Engagement bei der Sache war. Für diesen Schritt musste der Bäcker im Internet ekelhafte Hetze über sich ergehen lassen. Aber er blieb standhaft, und heute sind alle Beteiligten froh, diesen Schritt gegangen zu sein. Diese Geschichte zeigt, was Soziale Marktwirtschaft in vielen Facetten ausmacht. Dazu gehören übrigens auch Freiheit und Demokratie. Ludwig Erhard hat selbst erklärt, dass ihn erst das Erlebnis der totalitären Herrschaft des Dritten Reiches und die persönliche Begegnung mit dem Widerstandskämpfer Carl Goerdeler von der Wissenschaft in die Politik brachten. Der Freiheitsgedanke der Sozialen Marktwirtschaft geht deshalb weit über eine wirtschaftspolitische Freiheit hinaus.
Das Beispiel des Bäckers zeigt aber vor allem: In der Sozialen Marktwirtschaft steht der Mensch im Mittelpunkt. Ludwig Erhard schrieb dazu in seinem Bestseller „Wohlstand für alle“: „Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte, sondern ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.“ Und wie der Bäcker kümmern sich viele Unternehmer, Mittelständler und Vorgesetzte in Deutschland vorbildlich um ihre Angestellten. Aber wir sehen auch das Gegenteil. Am schlimmsten finde ich dabei nicht Fälle wie die von Ex-VW-Chef Martin Winterkorn. Sondern die „Fälle“ im Kleinen, die nur selten justiziabel sind: Firmen, die ihre Mitarbeiter 24 Stunden erreichbar halten, die schlechte Löhne zahlen oder die Mütter oder Väter bei der Rückkehr aus der Elternzeit schikanieren. Genau wie der freiheitliche Staat lebt auch die Soziale Marktwirtschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann. Dazu gehört verantwortungsvolles Unternehmertum nach dem Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“. Dazu gehören aber auch die Leistungsbereitschaft und „Verantwortungsfreudigkeit“ – wie Ludwig Erhard das so schön genannt hat – von anderen Beteiligten. Wir sehen zum Beispiel Verbände, die in Sonntagsreden gerne auf die Soziale Marktwirtschaft verweisen, beim ersten Problem aber nach staatlichen Fördergeldern rufen. Und dann sehen wir auch Menschen, die lieber auf Kosten der Solidargemeinschaft leben anstatt zu arbeiten. Gerade einige junge Leute sind nicht mehr bereit, für einen Job auch Zugeständnisse zu machen, und etwa als Bäcker um 2 Uhr nachts aufzustehen. Die Soziale Marktwirtschaft steht für Solidarität mit denen, die sich nicht selbst helfen können. Aber diese Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Die Soziale Marktwirtschaft setzt völlig zu Recht auf Leistung, Wettbewerb und Eigenverantwortung. Wer bestehen will, muss sich anstrengen. Und wer sich anstrengt, soll mehr haben als der, der sich nicht anstrengt.
Leider ist der Leistungsgedanke in Deutschland in den vergangenen Jahren ins Hintertreffen geraten. Beispiel Bildung: Der berechtigte Wunsch, dass mehr Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien Abitur und einen Uni-Abschluss machen können, hat nicht dazu geführt, dass diese Kinder gezielt zu besseren Leistungen gefördert werden. Sondern die Länder, gerade die rotgrün-regierten, haben einfach die Standards gesenkt. So ist in Berlin die Zahl der Abiturienten mit einem 1,0-Abi binnen zehn Jahren um das 14-Fache gestiegen. Die Folgen: Das Handwerk sucht händeringend ausbildungsfähige Lehrlinge. Denn: Die Schüler mit den guten Noten gehen auf die Uni, viele mit schlechteren Noten sind nicht ausbildungsfähig. Und an den Unis beklagen immer wieder Professoren die steigende Zahl von Studenten, die nicht hochschulreif sind. Am Ende mangelt es uns so auf doppelte Weise an gut ausgebildeten Fachkräften.
Zur Wahrheit gehört auch, dass wir in Deutschland Fälle von tatsächlichen und vermeintlichen Leistungs-Ungerechtigkeit haben. Bei uns gibt es Arbeitnehmer, die zwei oder drei Jobs haben und trotz Mindestlohn noch zum Sozialamt müssen, um ihre Familie ernähren zu können. Vermeintlich ungerecht ist, dass der örtliche Bäcker und der große Discount-Bäcker im Wettbewerb stehen. Aber nach den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ist das in Ordnung. Ob aber immer mehr Discount-Bäcker für das traditionsreiche Bäcker-Handwerk und die Lebendigkeit von Ortskernen vorteilhaft sind, ist für mich mehr als fraglich.
Zu einer Marktwirtschaft gehört auch die „schöpferische Zerstörung“ nach Joseph Schumpeter. In einer globalisierten und digitalisierten Welt kann ich heute nicht jedem leistungsbereiten Arbeitnehmer garantieren, dass es seinen Job in 10 oder 20 Jahren noch gibt. Ein Beispiel: Es gibt heute kaum noch Videotheken. Streaming-Dienste haben hier längst das Rennen gemacht – mit der Folge, dass Arbeitsplätze weggefallen sind. Und ich kann nicht jedem noch so motivierten Arbeiter am Fließband garantieren, dass sein Job nicht in naher Zukunft von einem Roboter übernommen wird. Als Politiker etwas anderes zu behaupten, ist unredlich. Und auf die Standard-Antwort von SPD und Grünen, gegen alle Unwägbarkeiten des Lebens den Sozialstaat aufzublähen, möchte ich mit einer „Gretchenfrage“ von Ludwig Erhard antworten: „Hat denn das Eindringen des Staates, der öffentlichen Hand und der sonstigen großen Kollektive in das menschliche Leben, hat die damit verbundene Aufblähung der öffentlichen Haushalte nun wirklich zur Vermehrung seiner Sicherheit, zur Bereicherung seines Lebens und zur Minderung der Lebensangst jedes einzelnen beigetragen?“ Die Antwort dürfte klar sein.
Ja, in einer Zeit, in der ohnehin viele Menschen durch globale Entwicklungen verunsichert sind, schafft eine Marktwirtschaft auf den ersten Blick nicht mehr Sicherheit. Aber die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland hat bewiesen, dass sie auch in schwierigen Zeiten für Wohlstand für viele sorgen kann. Wir haben den Wiederaufbau nach dem Krieg, die Wiedervereinigung, die internationale Wirtschaftskrise 2008 und die Eurokrise nicht nur gemeistert, sondern Deutschland steht heute wirtschaftlich so stark da wie noch nie. Das liegt auch an den richtigen politischen Leitplanken. Wir als CDU haben sie in den vergangenen Jahren richtig gesetzt: Mit soliden Finanzen ohne neue Schulden, dem Verzicht auf Steuererhöhungen und mit Rekordinvestitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur. Aber das liegt vor allem daran, dass es noch genug Menschen in unserem Land gibt, die die Werte und Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard mit Leben füllen. Der Bäcker in meiner Heimat gehört dazu. Solange es solche Menschen in unserem Vaterland gibt, wird mir um den Wohlstand in Deutschland nicht bange. Wir haben allen Grund zum Optimismus.
Veröffentlicht als Namensbeitrag anlässlich des 120. Geburtstages von Ludwig Erhard auf welt.de