Wenn die Welt sich verändert, dann kann das Denken nicht stehen bleiben.

Es ist noch nicht lange her, da haben wir Heiner Geißler in Gleisweiler, seinem Heimatdorf, zu Grabe getragen. Die Familie, Freunde und Weggefährten waren versammelt, ein Kranz mit bunten Blumen schmückte den Sarg in der kleinen Kirche, wunderbare Musik erklang, die Worte des Pfarrers und vor allem die Ansprache Erwin Teufels waren berührend. Ich dachte bei mir: Das hätte Heiner Geißler gefallen.

Nun sind wir hier in der St.-Hedwigs-Kathedrale zusammengekommen. Politische Freunde und Weggefährten waren dabei. Die Orgel spielte, wir hörten tröstende Worte und Lieder. Und wieder dachte ich: Das hätte Heiner Geißler gefallen. Sicher auch wegen der Menschen, die hier zusammenkommen, von denen viele ihn viel besser kannten als ich. Und von denen er viele schätzte und kannte.

Die St.-Hedwigs-Kathedrale ist so gar nicht vergleichbar mit dem wunderschönen aber auch beschaulichen Gleisweiler und seiner kleinen Kirche. Die Berliner Kathedrale wurde vom preußischen König errichtet als Signal an seine katholischen Bürger: Ihr gehört dazu. Sie wurde nicht nur als erste katholische Kirche nach der Reformation in Berlin gebaut, sie war zugleich die größte Kirche Berlins, denn den Dom gab es damals noch nicht. Sie war Ausdruck der Religionsfreiheit und Toleranz. Doch sie hat nicht nur eine besondere Geschichte. In ihr kommen das, was die CDU ausmacht zusammen. Das C, der Bezug auf das christliche Menschenbild, und das U, das Ziel, das Verbindende zu suchen und nicht das was uns trennt.

Mehr noch als die Toleranz hätte Heiner Geißler aber der Anspruch politischer Führung gefallen, der mit dem Bau der Kirche zum Ausdruck kam, denn längst nicht alle Berliner fanden die Idee ihres Königs gut. Er war aber davon überzeugt, dass es richtig war, dieses Gotteshaus zu bauen.

Eine Überzeugung haben, für sie eintreten und das dafür Notwendige tun auch gegen Widerstände bis es etwas Selbstverständliches wird. Das entsprach Heiner Geißlers politischen Selbstverständnis.
Meine erste persönliche Begegnung mit Heiner Geißler fand in meiner Heimatstadt Gelnhausen statt. Dort war er in einer örtlichen Buchhandlung zu Gast, um aus seinem Buch „Zugluft“ zu lesen. Ich hatte gerade Abitur gemacht und mit dem Studium begonnen, war Mitglied der Jungen Union und der CDU und wollte den ehemaligen Generalsekretär hören. Das Buch hat meine Mutter, die ich begleitet hatte, damals gekauft. Wir haben es von Heiner Geißler signieren lassen. Neulich hatte ich es wieder in der Hand. Beim zufälligen Aufschlagen fiel mir die Passage zum Thema Einwanderung in die Hand. Heiner Geißler war einer der ersten, der in der CDU für ein Einwanderungsgesetz warb. Aktuell diskutieren wir ein solches Gesetz, wir haben es im Regierungsprogramm Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz genannt, mit FDP und Grünen. Vielleicht wird es in der neuen Legislaturperiode Wirklichkeit. Spannend war aber auch die interne Diskussion, die Heiner Geißler im Buch beschreibt.

Sein Streit mit Edmund Stoiber, mit anderen namhaften Vertretern der CDU schildert er sehr genau. An seiner Seite hatte Geißler damals die Junge Union. Deren Vertreter argumentierten für eine offene Gesellschaft. Wie denn ein vereintes Europa funktionieren solle, laute da die Frage, wenn es nicht auf einer multikulturellen Gesellschaft aufbaue. Multikulturalismus statt Multikulti als zwei Paar Schuhe. Integration, Vielfalt und Miteinander statt Nebeneinanderherleben. Bei aller Zuspitzung hatten Heiner Geißler und seine Mitstreiter immer die Kraft und intellektuelle Fähigkeit zur differenzierten Betrachtung, zur trennscharfen Analyse. Das fehlt uns heute und vielleicht liegt das auch an Eilmeldungen und der Verkürzung von Botschaften auf 140 Zeichen.
Ja, Heiner Geißler fehlt uns: Die tiefsinnigen Gespräche mit ihm, sein kluger Rat, seine kristallklaren Analysen, sein scharfzüngiges Argumentieren, sein vorausschauendes Denken – all das lebt von nun an nur noch in den Erinnerungen. Doch es geht nicht nur um dankbares Erinnern. Nein, Heiner Geißlers Wirken ist uns allen Auftrag und Verpflichtung. Er hat uns etwas hinterlassen, das nicht mit ihm gestorben ist, sondern das bleibt.

Dabei denkt jeder vielleicht an etwas anderes. Für mich bleibt vor allem der streitbare Geist Heiner Geißlers. Ja, der Streit um die richtigen Antworten war Heiner Geißler nicht fremd. Aber es war nicht der Streit um seiner selbst willen. Es war der Streit, der nicht danach schaut, was ankommt, sondern der hilft, zu erkennen, worauf es ankommt.

Deshalb war er bereit, seiner Partei und unserem Land etwas zuzumuten; er hat Debatten angestoßen und Widerspruch geübt. Denn widerstreitende Meinungen irgendwie zu überkleistern – das entsprach weder seinem Anspruch an intellektuelle Redlichkeit noch dem an eine lebendige Demokratie.

„Eine Demokratie ist kein Gesangsverein Harmonie“ – so formulierte es Heiner Geißler einmal. Und in der Tat: Bei seiner Suche nach den richtigen Antworten und bei seinem Ringen um gute Lösungen war Harmonie nicht der ausschlaggebende Faktor.

Und in den Debatten, die er anstieß und bereicherte, wurde eine Herangehensweise sichtbar, die vielleicht am deutlichsten auf seine jesuitische Prägung hinweist: Er hinterfragte stets aufs Neue die Dinge, er betrachtete die Wirklichkeit von allen Seiten, er drang gedanklich tief in die Lebenswelten und sozialen Verhältnisse ein – und das alles mit dem Ziel, dem Einzelnen gerecht zu werden. Und genauso jesuitisch war sein Zweifel, im Besitz der Wahrheit zu sein. Er war immer bereit, auch eigene Standpunkte kritisch zu hinterfragen. Für ihn war klar: Wenn die Welt sich verändert, dann kann das Denken nicht stehen bleiben.

Wichtiger als das Dogma war ihm das Erkennen der Zeichen der Zeit. Angesichts von Veränderungen braucht es immer wieder die Kraft, Neues anzustoßen – auch gegen Widerstände. Es braucht die Kraft, Veränderungen mutig anzugehen, damit aus ihnen etwas Gutes werden kann.

Dabei orientierte sich Heiner Geißler immer an unerschütterlichen Grundprinzipien; dazu gehört der Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und damit ist die Würde jedes Menschen gemeint – ausnahmslos, bedingungslos und grenzenlos.

Als Geschöpf Gottes kommt jedem Menschen die unveräußerliche Würde zu, die es zu achten und zu schützen gilt. Und hierin sah Heiner Geißler auch die Quelle für die Grundwerte der CDU: Das christliche Menschenbild.

Von diesen Grundsätzen „durchpflügte“ er gedanklich alle Politikbereiche, löste Widersprüche auf und erhob den Anspruch, dass sich alle konkreten Forderungen an den eigenen Grundsätzen messen lassen müssen. Damit trug er als Generalsekretär maßgeblich dazu bei, dass die CDU eine moderne Volkspartei wurde und bis heute fest in der politischen Mitte verankert ist.

Dafür steht das erste Grundsatzprogramm der CDU „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“; dafür steht „Die Neue soziale Frage“; dafür steht die Neuausrichtung in der Familienpolitik; dafür steht die Gleichstellung von Frauen und Männern; dafür steht die Wertschätzung sozialen Engagements.

Auch wenn er bei all diesen Fragen aneckte – im Kern wird hierin Heiner Geißlers Loyalität sichtbar: Loyalität gegenüber den eigenen Grundüberzeugungen und den Grundüberzeugungen seiner Partei. Um dieser Überzeugungen willen scheute er keine Debatte, scheute er keinen Widerspruch, schielte er nicht auf Mehrheiten oder Applaus.

Kurz vor seinem 85. Geburtstag sagte Heiner Geißler auf die Frage, ob es etwas gebe, was er bereue: „Ich hätte manchmal noch mehr Krach schlagen müssen.“

Krach aus Loyalität; Mut zu Debatten, die uns und unser Land voranbringen; Veränderungsbereitschaft und Wagnis für neues Denken – das alles, und noch viel mehr, hinterlässt uns Heiner Geißler. Dieses Vermächtnis bleibt weit über den Tod hinaus.

1 Kommentar zu “Wenn die Welt sich verändert, dann kann das Denken nicht stehen bleiben.

  1. Zitat Geißler: „Wenn die Welt sich verändert, dann kann das Denken nicht stehen bleiben.”

    Im Umkehrschluß gilt dann aber auch: Die Welt verändert sich, auch wenn das eigene Denken stehen bleibt. Und: Ein verändertes Denken sprengt jede alte Form in der es sich nicht wohl fühlt.

    Zitat Tauber: „Wichtiger als das Dogma war ihm das Erkennen der Zeichen der Zeit. Angesichts von Veränderungen braucht es immer wieder die Kraft, Neues anzustoßen – auch gegen Widerstände. Es braucht die Kraft, Veränderungen mutig anzugehen, damit aus ihnen etwas Gutes werden kann“.

    Das hätte Heiner Geißler auch gefallen.

    Fazit: Wir haben seit bald 70 Jahren die alte Form der Parteiorganisation. Eine Organisation, die den Aufbaujahren gerecht wurde. Sie ist kein Dogma. Erkennt man die Zeichen der Zeit, dann sollte so schnell wie möglich die Organisationsstruktur der CDU den Zeichen der Veränderungen angepasst werden. Noch besser, den zu erwartenden Veränderungen gerecht werden. Eine auf Kunden angewiesene Firma wäre mit diesem Stillstand schon längst am Ende. Wo ist der neue CDU-Luther, der Verkrustungen sprengt und die CDU organisatorisch für die bereits erkennbare neue Gesellschaft vorbereitet? Hätte Heiner Geißler das Alte oder das Neue besser gefallen? Die Frage ist bereits mit dem Text von Herrn Tauber beantwortet.

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