Stolpersteine sind wie ein Loch im Strudel der Zeit

Vor dem Haus, in dem ich wohne, sind mehrere „Stolpersteine“ in den Gehweg eingelassen. Sie sind nicht mehr so schön glänzend und neu, wie damals, als sie verlegt worden sind, aber doch fallen sie zumindest mir sofort ins Auge. Kein Wunder – ich wohne ja schließlich in dem Haus (Moment! Nicht jeder weiß, was Stolpersteine sind? Unter diesem Titel erinnern „Steine“ – kleine Quader aus Beton mit einer Messingplatte inklusive einer Gravur – an ehemalige jüdische Bewohner der Häuser, vor denen die Stolpersteine liegen. Mancherorts wird auf diese Weise auch anderen Opfern des Nationalsozialismus gedacht. Nähere Informationen unter www.stolpersteine.com).

Mich hat bereits während meiner Schulzeit interessiert, wie das damals in meiner Heimat, im Kinzigtal, war, als die Nazis sich anschickten, die Macht zu ergreifen. Anschließend habe ich Geschichtswissenschaften studiert und das dunkelste Kapitel in der Geschichte unseres Volkes hat mich auch während meines Studiums intensiv beschäftigt. Das vermittelte Schulwissen hatte mir außerdem nicht gereicht. Ich wollte wissen, wie der Nationalsozialismus nicht nur die Macht erobern, sondern eine ganze Gesellschaft „gleichschalten“ konnte. Zum Glück stellen sich auch heute viele junge Menschen diese Frage. Leider gibt es immer weniger, die von dieser Zeit erzählen können. Das macht das Verstehen nicht leichter und es verführt dazu, mit dem Wissen von heute und den Werten, die unsere Gesellschaft prägen – Helmut Kohl sprach in diesem Zusammenhang nicht ganz zu Unrecht von der Gnade der späten Geburt –, das Handeln der Menschen damals zu bewerten. Davor sollten wir uns hüten. Und wir sollten uns auch davor hüten, aus Unverständnis oder aufgrund der fortschreitenden Jahre zu vergessen, was damals nicht nur in Auschwitz, sondern in deutschen Städten und Dörfern geschah. Denn dort begann mit der Ausgrenzung der deutschen Juden der Holocaust. Hier begannen Diskriminierung und Unterdrückung von Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

Beim Erinnern helfen die Stolpersteine, denn dem aufmerksamen Fußgänger lassen sie innehalten. In den Gassen der Gelnhäuser Altstadt fallen die Stolpersteine besonders ins Auge. Sie zeigen, dass es in unserer Stadt früher offensichtlich eine lebendige jüdische Gemeinde gab, denn man findet sie sprichwörtlich an jeder Ecke. Auch die ehemalige Synagoge zeugt von dem jüdischen Leben in Gelnhausen, doch ist sie ein Gebäude ohne Namen. Anders ist das mit den Stolpersteinen. Die Namen, verbunden mit dem Geburts- und Todesdatum und dem Datum der Deportation, sind wie ein Loch im Strudel der Zeit, durch das man zurückschauen kann.

Die Stolpersteine sind dabei nicht nur ergänzende Hinweise für die vielen Touristen und Gäste, die aufgrund der mittelalterlichen Geschichte Gelnhausens den Weg hierher finden. Noch wichtiger fast sind sie aus meiner Sicht für die Gelnhäuser selbst. Gerade weil unsere Stadt so geschichtsträchtig ist und wir mit einem gewissen Stolz immer wieder an Kaiser Barbarossa, an Grimmelshausen oder Philipp Reis erinnern, sollten wir auch den Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen Namen geben, die in der Regel ebenso begeisterte und überzeugte Gelnhäuser waren wie die, die sich heute als solche empfinden und diese Stadt als ihre Heimat ansehen.

Nach dem Krieg fanden viele Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten in Gelnhausen ein Zuhause. Aus dem Zuhause wurde eine neue Heimat. In den letzten Jahrzehnten sind viele Menschen aus anderen Teilen Deutschlands in der Barbarossastadt heimisch geworden und natürlich gibt es eine große Zahl an Gelnhäusern, deren Eltern und Großeltern aus anderen Teilen der Welt kommen. Die Stolpersteine sind auch für diese Menschen wichtig, denn sie sollen die Geschichte ihrer neuen Heimat kennen und kennenlernen. In Gelnhausen ist es recht leicht, sich der eigenen Geschichte bewusst zu werden. Man braucht nur nach oben zu schauen, auf die Marienkirche oder die schönen Fachwerkgiebel der Häuser. Manchmal hilft aber auch der Blick nach unten und da sind sie dann, die Stolpersteine.

Das Haus, von dem ich am Anfang sprach, steht in Berlin. Es ist ein großes, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gebautes Haus. In der Straße in der ich wohne, leben mehr Menschen mit Migrationshintergrund als gebürtige Deutsche. Wie viele der Migranten allerdings Deutsche, wie viele Ausländer sind, kann man schlecht sagen. Auch sie alle sehen die Stolpersteine. Ob sie um die Bedeutung wissen? Ob sie sich dafür interessieren? Wir wollen es hoffen, denn wenn Deutschland nun auch ihre Heimat ist, dann wird die Geschichte unserer Nation automatisch zu ihrer Geschichte. Und es ist eine wichtige Aufgabe für und Voraussetzung von Integration, nicht nur das hier und jetzt zu verstehen und die Werte des Grundgesetzes anzunehmen, sondern auch zu lernen, wie das heutige Deutschland zu dem geworden ist, was es ausmacht – im Guten wie im Schlechten.

„Zukunft braucht Herkunft“ lautet ein kluger Satz. In einer sich schnell verändernden Welt hat Heimat heute wieder einen hohen Stellenwert. Noch vor wenigen Jahren galt dieser Begriff als angestaubt, heute wünschen sich die Menschen Heimat, denn Heimat vermittelt Vertrautheit und Geborgenheit. Unsere Geschichte – nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen – gehört dazu. Sie schafft dieses besondere Gefühl des Zuhauseseins, das auch auf gemeinsamen Erinnerungen und Gefühlen basiert. Und es sind nicht immer nur die glückseligen Momente, sondern auch schwierige und traurige Erinnerungen, die uns einen Ort zur Heimat werden lassen. Daher sind die Stolpersteine für mich mehr als „nur“ die Erinnerung an Menschen, denen großes Unrecht und Leid widerfahren ist. Die Stolpersteine können helfen, uns bewusst zu werden, warum wir heute sind was wir sind. Das moderne Deutschland, ein demokratischer Rechtsstaat, in dem Menschen frei, sicher und in Wohlstand leben können, in dem sie Chancen haben wie kaum in einem anderen Land auf der Welt, ist erst nach dem zerstörerischen Nationalsozialismus entstanden und aufgebaut worden.

Wir tun gut daran, uns zu erinnern, dass es viele Menschen gab, die von so einem Deutschland vielleicht geträumt, aber die es nie erlebt haben. Zu ihnen gehören sicherlich auch die Menschen, an die wir uns dank der Stolpersteine erinnern sollten. Sie geben nachwievor dem unfassbaren Schrecken des Nationalsozialismus ein Gesicht und lassen die Opfer nicht dem Vergessen anheimfallen. Sie erinnern uns zugleich aber auch daran, wie wertvoll und verletzlich zugleich Einigkeit und Recht und Freiheit auch heute noch sind und dass es an uns liegt, ob auch künftige Generationen in einem Deutschland leben, das Raum hat für diese Form der Erinnerungskultur. Ich würde mir das wünschen. Darum unterstütze ich die Stolperstein-Initiative in Gelnhausen.

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