74. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen

Rede von ParlSts Dr. Peter Tauber anlässlich des 74. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen am 28. April 2019

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, werte Ehrengäste,

es ist für mich eine besondere Ehre, dass ich am heutigen Tage, dem 74. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen in Vertretung der Bundesministerin der Verteidigung, deren herzliche Grüße ich übermitteln darf, zu Ihnen spreche.

Mein erster Besuch in Bergen-Belsen liegt nun schon sehr viele Jahre zurück. Ich ging damals noch zur Grundschule. Kurz vorher hatte in die Geschichte von Anne Frank kennengelernt. Anne Frank, das kleine jüdische Mädchen, wie ich in Frankfurt am Main geboren, das hier in Bergen-Belsen noch kurz vor Ende des Krieges ermordet wurde. Diese Geschichte hat mich nicht nur damals als Kind berührt. Sie beschäftigt mich und viele andere – nicht nur junge Menschen – bis heute.

Der Name Bergen-Belsen ist auch deswegen eben kein herkömmlicher Ort auf der Landkarte mehr. So wie das auch für Dachau, Buchenwald, Oranienburg und andere Orte gilt, die in den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte zu Stätten der Willkür, des Terrors und des Todes wurden.

Die Geschichte des Konzentrationslagers Bergen-Belsen zeigt uns auch die Eskalation der Gewalt, die Totalität, den Verlust der Menschlichkeit, die Verrohung – und sie führt uns immer wieder zu der Frage, was der Einzelne tat und aus heutiger Perspektive, was wir tun, wenn diese 12 Jahre deutscher Geschichte heute wieder öffentlich von manchen zu einer Fußnote erklärt werden. Wehren wir den Anfängen? Stehen wir auf?

Es steht dem demokratischen Deutschland, der neuen deutschen Republik, die sich im Artikel 1 ihres Grundgesetzes der Humanität, den Werten der Aufklärung, dem christlichen Menschenbild verpflichtet hat, gut an, gerade Ihnen gegenüber, den anwesenden Zeitzeugen der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus, zum Ausdruck zu bringen, dass wir Sie sehr hoch achten und dass wir gewillt sind, Ihre damaligen Leiden als Ansporn dafür zu sehen, alles zu tun um zu verhindern, dass auf deutschem Boden und von Deutschland ausgehend Unrecht, Willkür, Terror Raum greifen.

Der heutige Tag sollte daher für uns mehr sein, als nur ein festes Datum in der Erinnerungskultur. Wir wollen nicht nur des Vergangenen Gedenken. Wir wollen aus dem Vergangenen recht leben.

Dieter Graumann, der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat einmal gesagt: „Es gibt kein Land auf der ganzen Welt, das sich so sehr mit seiner Geschichte beschäftigt hat wie Deutschland. Nirgends war es auch so nötig, aber dennoch ist das eine große Leistung.“

An diesen Worten werden wir uns auch künftig messen lassen.

Und diese Auseinandersetzung mit unserer Geschichte dient einem Ziel. Das „Nie wieder!“ ist unsere Verpflichtung. Und das ist auch einer der Gründe, warum wir uns als Bundeswehr nicht nur hier in Bergen-Belsen engagieren, wenn es darum geht, zu erinnern und zu gedenken. Das Erinnern an den Holocaust ist für uns aus vielerlei Gründen Verpflichtung. Zum einen, weil vor der nationalsozialistischen Diktatur unsere jüdischen Mitbürger ganz selbstverständlich in den Streitkräften Deutschland dienten. Und man darf hinzufügen: Sie tun es heute im demokratischen Deutschland wieder.

Vor allem aber, weil diese Bundeswehr nicht nur den Auftrag hat, das Staatsgebiet der Bundesrepublik und unsere Verbündeten tapfer zu verteidigen. Unsere Soldatinnen und Soldaten dienen einer Werteordnung, die sich dem Frieden, der Gerechtigkeit, der Freiheit verpflichtet hat. Ausdruck findet das im Art. 1 unseres Grundgesetzes, der Würde des Menschen, die zu schützen und zu achten Aufgabe aller staatlicher Gewalt ist. Getragen ist diese Haltung durch den Geist der Aufklärung, aufbauend auf dem christlichen Menschenbild und der Humanität. Dem sind deutsche Soldaten heute verpflichtet. Und deswegen ist es so notwendig, dass wir jedem Aufflammen rechtsextremen Denkens nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Bundeswehr mit aller Entschlossenheit entgegentreten. Wer Reichsbürger ist, kann kein deutscher Soldat sein. Wer rechtsextremen Überzeugungen fröhnt, hat die Ehre verwirkt, unter den deutschen Farben schwarz-rot-gold zu dienen. Den Farben der Freiheit, der Einigkeit und des Rechts.

Hier in Bergen-Belsen stand lange der Truppenübungsplatz im Mittelpunkt. Die Wandlung hin zu einem Schreckensort geschah langsam.Im Sommer 1940 entstand auf dem Gelände zunächst ein Barackenlager für belgische und französische Kriegsgefangene.Erst 1943 wurde der Lagerkomplex von der Wehrmacht an die SS übergeben. Sie nutzte das im Frühsommer 1944 dann offiziell in ein KZ umgewandelte Areal bis zu dessen Befreiung am 15. April 1945 durch britische Truppen als Durchgangs-, Aufenthalts- und Auffanglager.

Hier in Bergen-Belsen wird durch diese besondere Geschichte auch die Rolle der Wehrmacht als Element der NS-Herrschaft mehr als deutlich.

Es braucht hier an diesem Ort keine ausführliche Begründung, warum die Wehrmacht für die Bundeswehr nicht traditionsstiftend sein kann, so wie es schon im Traditionserlass von 1982 und auch im neuen Erlass vom 28. März 2018 festgeschrieben worden ist.

Und hier, in Bergen-Belsen, kann man sehr genau sehen, warum die Väter der Bundeswehr unsere Parlamentsarmee bewusst auf einer „Negativtradition“ gegründet haben. Der Soldat der Bundeswehr sollte als Staatsbürger in Uniform, geleitet durch das Prinzip der Inneren Führung in einer Armee dienen, die das genaue Gegenteil der Wehrmacht ist.

Die Geschichte hier in Bergen-Belsen macht auch deutlich, warum das richtig und notwendig war. Das Grauen im hiesigen Kriegsgefangenenlager war nicht den schwierigen Umständen geschuldet. Es wurde hingenommen und war Teil des Systems. Der ehemalige Gegner war in der NS-Diktatur kein Mensch.

Für die ab Juli 1941 hier internierten, viele tausend sowjetischen Kriegsgefangenen waren keine festen Unterkünfte vorhanden. Sie wurden unter freiem Himmel dem Hungertod preisgegeben. Mindestens 30.000 sowjetische Kriegsgefangene fanden in Bergen-Belsen den Tod bis zum Frühjahr 1945.

Das Grauen von Bergen-Belsen fand noch eine Steigerung: Mit Übernahme des Areals durch die SS im April 1943 erhielt Bergen-Belsen eine Sonderstellung im NS-Lagersystem. Das geschah genau in dem historischen Augenblick, in den Wochen nach Stalingrad, als der Krieg militärisch nicht mehr zu gewinnen war und die Wehrmacht durch das Durchhalten an der Front das Morden in den Lagern noch fast zwei Jahre verlängerte. Nur die Männer des 20. Juli erkannten dies. Doch ihr Handeln blieb ohne Erfolg.

Bis Kriegsende wurden hier in Bergen-Belsen ausgewählte ausländische Juden als Geiseln festgehalten, um sie bei Bedarf gegen im Ausland internierte Deutsche austauschen zu können. Es fungierte als Durchgangslager für Menschentransporte in die Vernichtungslager. Und in den letzten Kriegsmonaten war dieses KZ primär „Auffanglager“ für die aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern in „Frontnähe“ nach Bergen-Belsen mittels Todesmärschen verbrachten Häftlinge. Mehr als 50.000 KZ-Häftlinge kamen zwischen Frühjahr 1943 und Ende April 1945 in Bergen-Belsen zu Tode.

Für die alliierten Befreier des Lagers, im Fall „Bergen-Belsen“ waren es die Briten, wirkte das alles apokalyptisch. Bergen-Belsen prägte das britische Deutschlandbild weitaus nachhaltiger als Auschwitz. Trotz großer ärztlicher Anstrengungen zur Rettung der Überlebenden starben im ersten Vierteljahr nach der Befreiung am 15. April 1945 durch britische Truppen noch weitere 13.000 Menschen.

Nach der Befreiung nutzte die britische Besatzungsmacht das Lager als „Displaced Persons Camp“. Es fungierte als Durchgangslager vornehmlich für die Juden Europas, die eine neue Heimat zumeist in Israel suchten. Bergen-Belsen als das größte jüdische „Displaced Persons Camp“ in Deutschland, in dem 12.000 Menschen lebten, nimmt mithin auch eine zentrale Rolle ein für die Gründung des Staates Israel.

Ich habe die Ehre, im Vorstand des deutschen Freundeskreises von Yad Vashem mitzuarbeiten. Wer diesen Ort auf dem Berg Herzl in Jerusalem einmal besucht hat, der wird das nie wieder vergessen. Dort trifft man viele junge Israelis und Besucher aus aller Welt. Natürlich spielt das Erinnern an den Holocaust eine zentrale Rolle dort. Den ermordeten europäischen Juden einen Namen zu geben, möglichst viele einzelne Geschichte zu sammeln und zu bewahren, ist wichtig.

Mich fasziniert dort aber eine Gruppe immer ganz besonders, das sind die „Gerechten unter den Völkern“. Es gab sie, wenn es auch viel zu wenige waren: Diejenigen, die ihre moralische Integrität bewahren konnten, die nicht korrumpiert wurden durch den Geist des Nationalsozialismus. Und die nicht nur diejenigen beschämen, die sich nach dem Ende des Krieges hinter der Behauptung versteckten, sie hätten ja nicht anders handeln können oder von all dem nichts gewusst.

Ihre leuchtenden Vorbilder sind für uns heute Verpflichtung. Und sie sind in der Tat heute in ihrem Tun traditionswürdig für unsere jungen Soldatinnen und Soldaten.

Manche sind bekannt geworden. So wie Wilm Hosenfeld, der den polnisch-jüdischen Pianisten Władysław Szpilman in seinem Versteck mit Nahrung und Kleidung versorgte und dem mit dem Film „Der Pianist“ ein cineastisches Denkmal gesetzt worden ist.

Weniger bekannt ist Fritz Fiedler, wie Hosenfeld Offizier der Wehrmacht. Als Ortskommandant der ukrainischen Kleinstadt Horodenka warnte er jüdische Einwohner vor einer Verhaftungsaktion der SS. Gut 50 jüdische Bürger versteckte er im Gebäude der Ortskommandantur. Seinen Soldaten gab er den Befehl, ein mögliches Eindringen der SS ins Gebäude mit Waffengewalt zu verhindern.

Als Feldwebel Anton Schmid zum Tode verurteilt wurde, hat er gesagt: „Ich habe nur als Mensch gehandelt.“ Vorher hatte er über 300 Juden aus dem Ghetto von Wilna, wo er stationiert war, gerettet. Nachdem seine Kontakte zum jüdischen Widerstand aufgeflogen waren wurde er im April 1942 hingerichtet.

Henning von Tresckow, einer der Männer des 20. Juli, hat einmal gesagt: „Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.“ Das ist viel von einem Menschen mit seinen Schwächen und Fehlern verlangt.

Vielleicht ist es ein Ziel, ein Ideal, dem wir uns heute verpflichtet fühlen sollten. Fürs Erste können wir aber Frieden, Freiheit und Demokratie bewahren, wenn wir uns an Feldwebel Anton Schmid orientieren und einfach „nur als Menschen handeln“.

Wir werden den Toten und auch den Überlebenden von Bergen-Belsen nicht durch das Erinnern alleine gerecht, sondern durch unser Handeln und Tun im Heute. Davon bin ich überzeugt. So bewahren wir Ihnen ein ehrendes Andenken.

Gedenkstein errichtet zum Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen.

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