Macht Wikileaks die Welt wirklich transparenter?

Für alle freiheitlichen Demokratien und für alle wirklichen Demokraten sollte ein Satz des in Königsberg geborenen großen deutschen Philosophen Immanuel Kant gelten, der da lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind Unrecht. Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch unausweichlich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“

Wer diesen nicht ganz leichten Satz versteht, ja wer ihm zustimmt, der wird nicht umhin können, das Internet als ein verheißungsvolles Instrument zu sehen, dass es nicht nur ermöglicht, die von Kant geforderte Transparenz zu schaffen, sondern sie im Zweifel auch gegen den Willen desjenigen, der nicht im Kantschen Sinne handelt, herzustellen. Womit wir beim aktuellen Thema Wikileaks sind. Die Anhänger von Julian Assange, dem spiritus rector von Wikileaks,  halten ihn und seine Mitstreiter für Kämpfer für eine gute Sache. Das Internet und Wikileaks könnten Immanuel Kants Forderung nach der größtmöglichen, ja absoluten Transparenz staatlichen Handelns zu neuer Aktualität verhelfen. So weit, so gut. Doch schon die Geheimniskrämerei über die Hintergründe, die Finanzierung und die Mitarbeiter von Wikileaks, die man nicht einfach mit dem Hinweis auf die Gefährdung durch Geheimdienste und obskure Gegner des Projekts abtun kann, macht deutlich, dass Wikileaks selbst gegen das von Kant formulierte Prinzip massiv verstößt. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sich ehemalige Weggefährten von Assange, dem offensichtlich die Macht, die ihm die Medien zubilligen oder die er zu spüren meint, zu Kopf gestiegen ist, abwenden und eigene Projekte planen. (http://tinyurl.com/38pvnwp)

Wikileaks, so mag nun mancher sagen, hat aber doch einen Anstoß gegeben, dass die Mächtigen dieser Welt sich für ihr Handeln dank des Internets nun verstärkt einer kritischen Öffentlichkeit stellen müssen. Das ist an sich eine gute Sache. Im Falle der über den Afghanistankrieg veröffentlichten Dokumente stimmt dies sogar. Nichts spricht dagegen, die Wirklichkeit des Krieges der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenngleich dies auch nur eingeschränkt oder gar nicht für Diktaturen in Asien, Südamerika und Afrika gelten mag, denn dort erreichen die Daten, Bilder und Dokumente die Menschen eben nicht. Wohl helfen die Veröffentlichungen aber, den Handlungsdruck auf die Regierungen der westlichen Welt zu erhöhen, um beispielsweise in Afghanistan erfolgreich zu sein oder streng auf die Einhaltung des Völkerrechts sowie des Kriegsrechts zu achten. Auch das ist zunächst nicht negativ zu bewerten, denn es erinnert uns daran, dass wir stets bemüht sein müssen, unseren eigenen Wertmaßstäben gerecht zu werden.

Wikileaks-Gründer Assange zeigt jedoch schon ein erstaunliches Maß an Hybris oder auch an Naivität, wenn er in einem Interview sinngemäß äußert, die Veröffentlichung könne Kriege schneller beenden. Wenn er darauf spekuliert, dass die harte Wirklichkeit des Krieges in den westlichen Gesellschaften die Bereitschaft unterminiert, sich denjenigen in den Weg zu stellen, die – ob bei uns zu Hause oder in anderen Teilen der Welt – daran arbeiten, unsere Lebensweise in Frage zu stellen und zu zerstören, dann würde er nicht nur fahrlässig handeln, sondern dann entlarvt er sich selbst. Dann wäre sein Ziel nicht die Information der Menschen, damit sich diese als mündige Bürger selbst eine Meinung bilden, sondern dann wäre sein Ziel eine gezielte politische Beeinflussung.  Außerdem ignorieren Assange und seine Mitstreiter geflissentlich, dass sie mit ihrer Zielsetzung die Menschen in totalitären Regimen nicht erreichen, sondern in Kauf nehmen, dass unter Umständen gerade diese politischen Systeme von den Veröffentlichungen in der freien westlichen Welt profitieren.

Daher wäre es spannend, zu erfahren, wie weit der Arm von Wikileaks reicht. Haben die Macher den Mut, auch Dokumente aus China oder Russland zu veröffentlichen? Geheime Papiere aus den USA, die vor allem mit Blick auf die Bewertung europäischer Politiker so geheim nicht sind (oder war jemand von der Beurteilung des italienischen Staatschefs Berlusconis wirklich überrascht?), mögen der US-Administration unangenehm sein. Sie bedienen aber doch vor allem die Boulevardmedien und offensichtlich auch eine gewissen Eitelkeit von Assange. Außerdem entsprachen gerade diese Dokumente nicht dem Grundsatze Kants, denn sie dokumentierten Einschätzungen und Meinungen, keineswegs staatliches Handeln oder gar politische Pläne.

Ich persönlich halte eine größtmögliche Transparenz staatlichen Handelns für geboten, ja für notwendig. Daraus lässt sich aber eben nicht der Zwang, das Recht oder die Notwendigkeit ableiten, jede Absicht und jede Entscheidung bis ins letzte Detail öffentlich zu dokumentieren. Natürlich kann es Interessen und Grundrechte geben, die dem entgegenstehen – und dies beginnt beim Schutz von Persönlichkeitsrechten, betrifft aber eben auch die Sicherheit und Integrität von Personen und Gemeinwesen. Niemand kann beispielsweise ein Interesse daran haben, vertrauliche Dokumente über Kernkraftwerke oder militärische Anlagen im Internet kursieren zu lassen.

Assange selbst ist wohl ein gutes Beispiel dafür, dass Macht der Kontrolle bedarf. Diese fehlende Kontrolle führt offensichtlich dazu, dass die mit Macht oft einhergehende Korruption noch schneller erfolgt als in vielen anderen Fällen – auch hierfür ist Assange offensichtlich ein Beleg. Es ist zu wünschen, dass Wikileaks und andere vergleichbare Initiativen effektive Instrumente der Selbstkontrolle entwickeln. Und die Politik muss sich fragen, ob sie durch ein größtmögliches Maß an Transparenz Menschen wie Assange nicht die „Spielwiese“ entzieht.

Das Ziel oder der Traum einer besseren Welt durch Offenheit und Transparenz wird alleine auf diesem Wege aber wohl nicht erreicht werden. Friedrich Schiller hat dies erkannt: „Nur der Charakter der Bürger erschafft und erhält den Staat und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich. Denn wenn die Weisheit selbst in Person vom Olymp herabstiege und die vollkommenste Verfassung einführte, so müsste sie ja doch Menschen die Ausführung übergeben“, schreibt Schiller am 13. Juli 1793 an den Erbprinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein. Der „Charakter der Menschheit“ müsse zuerst „von seinem tiefen Verfall wieder emporgehoben worden“ sein – „eine Arbeit für mehr als ein Jahrhundert!“ –, ehe der „Versuch einer Staatsverbesserung aus Prinzipien“ gelingen könne. Zumindest Julian Assange wird also weder dem Anspruch Kants, noch dem Anspruch Schillers gerecht. Und wir sollten uns in unserem Tun als Bürger und Politiker, die wir im Sinne Max Webers alle sind, durchaus öfters kritisch selbst hinterfragen.

6 Kommentare zu “Macht Wikileaks die Welt wirklich transparenter?

  1. Kant geht es doch insgesamt um (republikanische) Publizität, weniger um Transpranz. Es geht darum, dass Maximen allgemein zustimmungsfähig sein müssen. Insofern ist das Thema doch die Rationalität von Herrschaft. Wollte Kant nicht Geheimdiplomatie und Kabinettskriege abschaffen? Sind die Handlungen von Wikileaks denn auf das Recht von Privatpersonen ausgerichtet?

    Aus meiner Sicht ist es kontraproduktiv „Lebensweise“ zum Thema von Krieg zu machen. Es gibt niemanden, der eine Invasion in die westlichen Demokratien starten möchte, um hier autoritär Gesetze einzuführen als ein Fremdherrscher. Wieviel Divisionen haben die denn? Nichtmal das katholische Moralgesetz droht uns. Der Sound ist mir viel zu sehr wie bei den neusten Tönen aus dem Hause Axel Springer („freie westliche Welt“). Ein paar Stämme und Banden am Ende der Welt sind nun wirklich keine territoriale Gefahr. Afghanistan hat gar kein „politisches System“. Letztlich müssen wir die öffentliche Meinung für uns gewinnen, um Erfolg zu haben. Das geht nicht ohne Authentizittä und ausschließlich mit instrumenteller Kommunikaiton.

    Die Frage ist, ob im Sinne von Kant eine Rationalisierung des Diskurses und der öffentlichen Meinungsbildung eintritt. Wir müssen schon genau unterscheiden, ob Gemeinwesen (ergo: kommunal) oder das Staatswesen, also die Verwaltung gemeint ist.

    Mich wundert übrigens, dass die amerikanischen Diplomaten keine Stärken analysieren. Das ist auffällig. Private Personen und Akteure müssen in Gegensatz zu staatlichen Akteuren nicht transparent und rational handeln. Das gerade Teil von Freiheit.

    Staatliches Handeln muss – anders als politisches oder auch unternehmerisches Handeln – dokumentiert werden. Das ist das Prinzip der Aktenführung. Darauf basiert Bürokratie und rationale Herrschaft. Wir können nicht hinter Max Weber zurück. Verwaltungshandeln ist heute einfach neuen Anforderungen seitens der Bürger ausgesetzt und bedarf verstärkt politisch hergestelltem Konsens oder klar legitimierenden Mehrheitsentscheidungen.

    Unsere Freiheit und komplexen Möglickeiten der Koordination und Rationalisierung des staatlichen Handelns sind im Ringen um Freiheit global unser vorzüglichestes und bestes Merkmal. Damit stiften wir weltweit zur Nachahmung an. Genau das wird dem Erbe von Kant und Schiller sicher mehr gerecht als alles andere.

  2. Die Depeschen enthalten mehr, als die Urteil von Diplomaten über irgendwelche Politiker. Auch viel brisanteres. Die Aufforderung, dass Diplomaten den Job des Geheimdienstes übernehmen sollen? Die Dyncorp-Geschichte? Es steckt unglaublich viel dahinter und es wurde bisher nur ein sehr geringer Teil der Depeschen veröffentlicht. Es würde mich nicht wundern, wenn noch brisantere Sachen rauskommen. Dass der Anfang schwach war, das sehe ich ähnlich. Ich war regelrecht enttäuscht, als ich den Spiegel las. Was interessiert mich, dass einer aus der FDP Sachen an die USA verrät oder was die USA von Angela Merkel hält. Das mag amüsant sein, ist aber nicht wirklich.

    Wikileaks hat auch schon Dokumente aus China veröffentlicht. Oder man erinnere sich an die Geschichte mit Island. Sicherlich liegt der Fokus stärker auf den USA. Das kann viele Gründe haben. Eine politische Agenda oder einfach nur, dass man nicht an anderes Material kommt.

    Die Person Assange empfinde ich auch als problematisch und mir war Wikileaks ohne Gesicht lieber. Von Wikileaks allerdings mehr Transparenz zu verlangen ist für mich naiv. Schon mit den Vorsichtsmaßnahmen werden Unterstützer und Mitarbeiter gegängelt. Wäre Wikileaks transparent, so würde es nicht existieren. Davon gehe ich aus. Man muss sich nur mal anschauen, was gewisse Politiker und Journalisten in den USA fordern.

    Es gibt einen Satz, dem ich allerdings gerne zustimme: „Und die Politik muss sich fragen, ob sie durch ein größtmögliches Maß an Transparenz Menschen wie Assange nicht die „Spielwiese“ entzieht.“

    Würde nicht immer und immer wieder durch Wikileaks bewiesen werden, dass man Wikileaks braucht, weil sonst Lügen, Ungerechtigkeiten, Unrecht, kriminelle Handlungen und schlimmeres vertuscht werden, weil sie nicht in die Agenda der Entscheidungsträger passen. Man denke nur an die Kunduz-Geschichte. Die Bevölkerung wurde belogen, damit die Bundesregierung bzw deren Mitglieder besser darstehen. Dank Wikileaks wissen wir. Das ist gut so und wichtig. Bei allen Problemen, die es um Wikileaks gibt.

  3. Aha. Und weil sie für „größtmögliche Transparenz staatlichen Handelns sind, ist es auch nicht möglich, die Nebeneinkünfte der Abgeordneten sinnvoll gestaffelt einzusehen. Wie war die Staffelung? 700€, 150€ und mehr als 7000€. Sehr aussagekräftig. Und wahnsinnig Transparent. Kopf einschalten bitte.

    1. Das war mal ein gutes Beispiel für einen sachlichen Kommentar – unabhängig von der Tatsache, dass er mit dem Blogbeitrag nicht viel zu tun hat. Darum an „wow“ die Bitte: Nicht nur „Kopf einschalten“, sondern auch nicht auf „Baumschulniveau“ diskutieren. (Die Zahlen zur Staffelung der Nebeneinkünfte sind zudem auch noch falsch…)

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