Vergessene Kriegsschicksale – drei lesenswerte Bücher und ein Film

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Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Deutschland und Europa waren vom Nationalsozialismus befreit. Während viele Deutsche unter unterschiedlichen Voraussetzungen in den drei westlichen Besatzungszonen und der SBZ den Blick nach vorne richteten, ließ der Krieg hunderttausende Menschen, vor allem viele Frauen, nicht los – teilweise bis heute. Das Leiden dieser Menschen wurde teils tabuisiert und ging unter in einer Gesellschaft, die sich der Vergangenheit nicht stellen wollte, die mit dem Wiederaufbau beschäftigt war und in der jeder seine eigenen Sorgen und Nöte zu bewältigen hatte.

Die Zahl derjenigen, die schon ein Weiterleben über das Kriegsende hinaus aus unvorstellbar für sich sahen, ist bis heute nicht zu ermitteln. Florian Huber geht in seinem Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945“ dem im untergehenden Dritten Reich verbreiteten Phänomen des Massenselbstmordes nach. Er spricht von zehntausenden Selbstmorden und schildert eine Fülle von Fallbeispielen detailliert. So kann man getrost von einer Massenpsychose sprechen, wenn sich in Orten wie Demmin, Neustrelitz oder Malchin jeweils mehrere hundert Menschen unmittelbar während und kurz nach dem Einmarsch auf die unterschiedlichste Art und Weise das Leben nahmen, sich erhängten, ins Wasser gingen, vergifteten. Väter töteten zunächst ihre Kinder, ihre Frau und dann sich selbst richteten. Der Handel mit Gift und das Gespräch über die verschiedensten Weisen, sich zu töten, wurde „normal“.

Doch Florian Huber belässt es nicht bei einer deskriptiven Beschreibung, sondern stellt die Frage, warum diese Menschen den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten, der sich in der Endphase des Krieges auch gegen das eigene Volk richtete, im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib nachvollzogen. Huber sucht die Erklärung dafür nicht allein in der unmittelbaren Situation des Untergangs, in der Verzweiflung und der Not des Zusammenbruchs, sondern zeichnet ein Psychogramm, das die latente Gewaltbereitschaft der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ebenso einbezieht, wie die Perspektive der individuellen Schuld und Verstrickung. Es ist ein wirklich lesenswertes Buch über ein all zu lang verdrängtes Kapitel deutscher Zeitgeschichte.

Von den drei hier genannten hat mich das Buch von Miriam Gebhardt „Als die Soldaten kamen“ über das Schicksal der vergewaltigten Frauen bei Kriegsende und in den ersten Jahren der Besatzungszeit besonders berührt. Unabhängig davon, ob man Gebhardts Zahlen von rund 900.000 vergewaltigten Frauen für korrekt hält oder von wie in anderen Arbeiten erwähnt von gut 2 Millionen vergewaltigten Frauen ausgeht, rückt das Buch ein Thema in den Blickpunkt, dass definitiv mehr Aufmerksamkeit verdient – und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt historischer Aufarbeitung. Beeindruckt hat mich vor allem die herausgearbeitete Tatsache, dass die Frauen erstens längst nicht nur an der Ostfront und unmittelbar in der Zeit des Zusammenbruchs Opfer von sexueller Gewalt wurden, sondern diese sich auch auf die drei Westzonen erstreckte. So geht die Autorin davon aus, dass gut 200.000 Frauen in der amerikanischen Besatzungszone Opfer einer Vergewaltigung wurden und über 40.000 Frauen durch französische Soldaten vergewaltigt wurden. Eine entsprechende Dunkelziffer – darauf weist Gebhardt hin – erschwert eine genaue Ermittlung, so wie man sich außerdem bewusst machen muss, dass viele Frauen mehrfach vergewaltigt wurden. Diese Aspekte der Massenvergewaltigung sind nicht Bestandteil der Kriegserinnerung der Deutschen, während die Vergewaltigungen in Berlin bei Kriegsende und die Schändungen durch Soldaten der Roten Armee im Osten schon allein aufgrund des dann folgenden Kalten Krieges eine andere Wahrnehmung erfuhren.

Es ist unbestreitbar ein großes Verdienst der Autorin, dies aufzubrechen. Doch damit nicht genug. Viele der Frauen blieben Opfer: Behördenwillkür, keine Anerkennung der Vergewaltigung, gesellschaftliche Stigmatisierung: all das waren Erfahrungen die viele der Frauen in der Bundesrepublik und der DDR machen mussten. Auch heute noch wenden sich Wissenschaft und Gesellschaft dem Thema nicht im notwendigen Umfange zu. So kann es passieren, dass die betroffenen Frauen in Alten- und Pflegeheimen erneut traumatisiert werden – ohne dass es jemand bemerkt oder die Reaktionen richtig deutet. Nur wenige wie die Altenpflegerin und Traumatherapeutin Martina Böhmer, die Gebhardt erwähnt, engagieren sich in dieser Frage.

Der Umgang mit den Tätern durch die Besatzungsmächte war nicht stringent. Gab es einerseits eine Reihe von Todesurteilen gerade gegen Kriegsende, so schützten die Armeen ihre Soldaten andererseits durch eine Rückversetzung in die Heimat vor der Strafermittlung durch deutsche Zivilstellen, die teilweise sowieso eine entsprechende Zurückhaltung und Hilflosigkeit gegenüber den Besatzungstruppen zeigten. Die Konflikte zwischen den fremden Soldaten und der deutschen Bevölkerung wurde zumindest in der Bundesrepublik durch die Medien durchaus thematisiert.

Dabei sahen sich die Frauen aber durchaus auch mit Vorwürfen konfrontiert. Den Opfern wurde all zu oft ein unpassender Lebenswandel unterstellt. Daher ist es begrüßenswert, dass die Autorin den Folgen breiten Raum zuteilwerden lässt. Nur die wenigsten Frauen offenbarten ihr Martyrium und kämpften gar um eine Entschädigung oder finanzielle Unterstützung. Gebhardt kritisiert denn auch, dass die Frauenbewegung – wohl auch aufgrund ihrer Nähe zur politischen Linken – in den 1970er Jahren die Chance verpasste, die Massenvergewaltigungen an ihrer eigenen Müttergeneration entsprechend zu thematisieren. Durch den Ost-West-Konflikt und die Prägung des Themas als vor allem die Rote Armee und damit die Sowjetunion betreffend schien ein Aufgreifen nicht opportun. So ist das Thema bei weitem nicht nur ein historisches, sondern auch ein gesellschaftspolitisches.

Viele Frauen schwiegen zu dem erfahrenen Leid wohl auch, weil sie Verantwortung für ihre Kinder hatten und damit beschäftigt waren, das tägliche Überleben sicherzustellen. Tausende Kinder und Jugendliche wurden jedoch n den letzten Wochen und Tagen des Krieges und nach Kriegsende ihrer Mütter beraubt und so zu Opfern des Krieges. Durch Flucht und Vertreibung aus dem Osten verloren viele ihre Großeltern und Eltern durch Vergewaltigung, Ermordung, Hunger oder sie wurden in den Wirren dieser Tage schlichtweg voneinander getrennt und fanden sich nicht wieder. Diese so genannten „Wolfskinder“ gehören zu den Vergessenen des Krieges.

Durch Bücher wie das von Sonya Winterberg oder auch den Film Wolfskinder von Rick Ostermann rückte ihr Schicksal wieder ins öffentliche Bewusstsein. Wie viele Kinder ihrer Identität beraubt nach Kriegsende noch starben oder schließlich in die DDR oder die Bundesrepublik gebracht wurden, wenn ihnen nicht die von vielen angestrebte Flucht nach Litauen gelang, lässt sich heute kaum noch sagen. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges bestand für viele dieser Menschen überhaupt erstmals die Möglichkeit, sich mit der eigenen Identität und Geschichte auseinanderzusetzen. Lange mussten sie um Anerkennung und Unterstützung durch deutsche staatliche Stellen kämpfen.

Versehen mit einem Vorwort von Rita Süßmuth gelingt es der Autorin anhand von ausgewählten Lebensgeschichten nicht nur die Zeit kurz vor der Flucht, die verlorene Heimat, sondern auch das Chaos und die Irrungen von Flucht und Vertreibung aus Sicht der betroffenen Wolfskinder nachzuzeichnen. So entstand ein Sachbuch, dass doch so stark und emotional ist, dass das Schicksal der Kinder, der Verlust ihrer Identität, der Familie und der Heimat viel besser verstehen lässt, was Flucht und Vertreibung für 15 Millionen Deutsche bei Kriegsende bedeuteten, als es die bloßen Zahlen und Landkarten zu zeigen vermögen.

Gleiches gilt für den bildreichen Film von Rick Ostermann, der mit eindrucksvollen Landschaftsaufnahmen und starken Bildern anhand des Schicksals zweier Brüder alle auch im Buch dokumentierten Erfahrungen der Wolfskinder bündelt und aufzeigt. Der Film lebt dabei von kurzen aber starken Dialogen und einer intensiven Bildsprache. Das Schicksal der Wolfskinder hat inzwischen eine breitere mediale Aufmerksamkeit gefunden und das Buch von Sonya Winterberg ist absolut empfehlenswert.

Drei lesenswerte Bücher, die einen Einblick in das geben, was die Deutschen, ob wir es wollen oder nicht, bis heute prägt. Und es zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch für uns selbst nicht beendet ist.

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sehr diese Erfahrungen uns als Deutsche bis heute beeinflussen. Miriam Gebhardt beschreibt, dass der Psychoanalytiker Uwe Langendorf festgestellt habe, dass über ein Drittel seiner Patienten einen Vertriebenenhintergrund hat, nachdem er anfing, sich mit möglichen Kriegstraumata zu beschäftigen.

Zwei Fragen lassen sich also stellen: Mit Blick auf uns selbst sollten wir uns damit auseinandersetzen, ob wir uns wirklich befreit haben von dem was der Nationalsozialismus in die Köpfe der Menschen gepflanzt hat und den dunklen Gefühlen, die er aktivieren wollte. Sind wir uns bewusst, dass jeder fünfte Deutsche in seiner Familie ein Flucht- und Vertriebenenschicksal hat? Sind wir eine mitfühlende Gesellschaft, die den einzelnen in den Blick nimmt und die notwendige Empathie aufbringt – auch für das selbst erfahrene Leid.

Und mit Blick auf die vielen Flüchtlinge und Hilfesuchenden, die derzeit in Deutschland sind oder zu uns kommen: Haben wir auch nur den Hauch einer Ahnung, wie schwer das Gepäck ist, dass diese Menschen an Erfahrungen und Leid mit sich herumtragen, selbst wenn sie nur mit dem was sie am Leibe tragen bei uns ankommen? Wir können von unserer eigenen Geschichte so viel lernen, wenn wir sie denn kennen.

Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges, München 2015.

Florian Huber, Kind, versprich mir bitte, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, Berlin 2015.

Sonya Winterberg, Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen, München 2014.

1 Kommentar zu “Vergessene Kriegsschicksale – drei lesenswerte Bücher und ein Film

  1. Lieber Herr Dr. Tauber,

    Vielen Dank für diese Buchempfehlungen. Ihr Blog hat mich zutiefst berührt. Insbesondere die zum Schluss von Ihnen aufgestellten Fragen halte ich für sehr wichtig, um für die Zukunft zu lernen. Diese Themen müssen dringend aufgearbeitet werden, um unsere gesamtgesellschaftliche soziale und emotionale Grundeinstellung zu verändern. Wenn man sich aktuell die schlimmen Debatten um Flüchtlingsbewegung, Zuwanderung, Fremdenpass usw. vergegenwärtigt wird klar, dass in ganz Deutschland noch sehr viel an Empathie und Verständnis für die gesamte Menschheit gearbeitet werden muss. Aus Geschichte lernen bedeutet für mich Gegenwart und Zukunft verstehen und verändern zu können.
    Herzlichst, Ihre Julia Hott

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